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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ließ.
    »Möchtest du unser Außendeck sehen?«, sagte ich rasch zu Mischa. Wenn man seine eigenen Sorgen hat, möchte man niemanden über andere Dinge klagen hören.
    »Jammern sie oben auch den ganzen Tag?«, machte ich mir an der Reling Luft.
    Mischa verneinte. Die Passagiere der ersten Klasse verbrachten den Tag unter Sonnenschirmen am Schwimmbecken, wo ihnen Cocktails und Eisbecher direkt an den Liegestuhl gereicht wurden, und die wenigen Juden, die in der ersten Klasse mitfuhren, verrieten sich allenfalls durch ihre Namen.
    Ich hob den Kopf und lauschte auf das Wasserplätschern und die Musik vom Deck über uns. Der Wind war an diesem Vormittag kaum spürbar und ich stellte es mir herrlich vor, in einem Schwimmbecken zu treiben. Obwohl es in meinem Fall wohl eher ein Hocken am Rand gewesen wäre, denn als Bekka und ich in das Alter gekommen waren, in dem alle um uns herum ihren Freischwimmer machten, waren die Bäder in Berlin für Juden bereits verboten gewesen.
    »In welchem Lager war dein Vater eigentlich?«, fragte Mischa.
    »Sachsenhausen, und deiner?«
    »Auch. Komisch, dass sie sich nicht gesehen haben. Sie waren wohl einfach zu viele.«
    Schockiert sah ich Mischa an. Es war ein wenig so, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Erst jetzt, und völlig unerwartet, traf mich die Erkenntnis, dass ich vor Mischa noch nie jemandem begegnet war, dessen Vater ebenfalls in einem Lager gewesen war.
    »Hat er«, ich musste schlucken, »schon irgendetwas erzählt?«
    Mischa rückte ein wenig näher. »Was willst du wissen?«
    Ich starrte in das blaugraue Wasser. Was wollte ich wissen? Ob sie die Männer nach der Verhaftung weiter geschlagen hatten vielleicht. Das Geräusch, mit dem der Wolf Papas Nase gebrochen hatte, würde ich nie vergessen, und auch nicht den blutigen Handabdruck, der an der Wand zurückgeblieben war. Selbst mit viel Seife hatte Mamu es nicht geschafft, die Spuren zu beseitigen. Ob die neuen Mieter unserer Wohnung sich manchmal fragten, warum der seltsame, hartnäckige Fleck im Flur fünf Finger hatte?
    Ob sie die Männer weiter angebrüllt hatten. Die Stimme des Wolfes hatte sich mir eingebrannt, sein heiseres Gebell. Warum hätte er zu brüllen aufhören sollen, nachdem er Papa auf den Lastwagen geworfen hatte?
    Wie die Gefangenen Tage und Nächte verbracht hatten, ob man sie hatte ausruhen lassen, ob sie gefroren und gehungert hatten – aber wusste ich nicht auch das schon längst? Fünf Wochen war Papa fort gewesen und es hatte keinen Tag und keine Nacht gegeben, in der ich nicht versucht hatte, es mir auszumalen.
    Ein kalter Hauch, der nicht vom Fahrtwind kam, streifte mich. Ich hielt es für möglich, dass es in Wahrheit noch viel schlimmer gewesen war.
    Mischa, der merkte, dass ich nichts fragen würde, schlug vor: »Wollen wir auf die andere Schiffseite gehen? Dort müssten wir bald die Küste sehen können.«
    »Gute Idee«, erwiderte ich dankbar und ging ihm voran durch die Tür, die quer durchs Schiff auf die Steuerbordseite führte. Auf dem Weg klärte ich Mischa auf, wie die Regeln hier unten waren, aber er zuckte nur mit den Schultern und erwiderte, man müsse sich auf der Seite der Deutschen ja nicht unbedingt in einen Liegestuhl setzen.
    Ich spürte, wie sich Riekchens Blick in meinen Rücken bohrte, während Mischa und ich in der Sonne standen und zu dem braunen Streifen Land hinüberschauten, der sich am Horizont abzeichnete. Diesmal genoss ich es geradezu. Guck nur, dachte ich. Ich habe einen Freund in der ersten Klasse, während du noch immer bei Tante Rosel im Liegestuhl liegst.
    Sofort fühlte ich mich ein wenig besser. Es sprach eine Menge dafür, eine Feindin an Bord zu haben, die einen auf andere Gedanken brachte! Kühn stellte ich einen Fuß auf das untere Gitter, um Riekchen zu ärgern. »Habt ihr noch Verwandte in Deutschland?«, fragte ich und machte ein paar Dehnübungen.
    Wahrscheinlich hatte Mr Tatler seinen Brief sowieso längst zugeklebt.
    Mischa trug einen blau-weißen Pullover mit passender Mütze; lässig lehnte er über der Reling, als kenne er keine Sorgen auf dieser Welt.
    »Die meisten sind schon in Amerika«, gab er zurück. »Bei uns kann es auch nicht mehr lange dauern. Wir haben einen Bürgen, den Bruder meines Vaters, wir warten in Shanghai nur auf unsere Quote. Die Familie von Mama ist noch in Berlin, aber denen passiert ja nichts.«
    »Wieso nicht?«, fragte ich und hörte erschrocken auf zu turnen.
    Das fehlte gerade noch – dass es einen rettenden

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