Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
zappeln, Kleine, sonst gehst du noch über Bord«, warnte jemand.
    Ein Motorboot tuckerte heran, auf dem ein dicker Ägypter in Uniform stand. Wenn man sich ein wenig vorbeugte, konnte man mehrere Meter unter uns den Kapitän der Scharnhorst erkennen, der den Lotsen im Eingang persönlich erwartete. Der Ägypter kam mit pompösen Schritten an Bord, die Frachtkähne legten ab, die einheimischen Verkäufer ruderten eilig weiter zum nächsten Schiff. In wenigen Minuten würden wir unsere Fahrt wieder aufnehmen.
    »Entschuldigung, darf ich …?«
    Ich schlüpfte unter den Armen der Erwachsenen hindurch, die sofort näher zusammendrängten, und drehte mich um mich selbst, um mir ein Bild von der Lage zu verschaffen. Unter normalen Umständen hätte ich lachen müssen. Die Leute hingen in Trauben über der Reling, als wären alle gleichzeitig seekrank geworden!
    Aber heute hatte ich dafür keinen Blick. Wie sahen Tatlers von hinten aus? Ratlos lief ich über das Deck, reckte den Hals, stellte mich auf die Zehenspitzen, aber vor mir sah ich nichts als Rücken. In der Kabine waren die beiden Engländer bestimmt nicht mehr, denn die Einfahrt in den Suez-Kanal war ein Höhepunkt der Reise, den man nicht verpassen durfte. Ich mochte wetten, dass selbst meine Eltern jetzt irgendwo in der Menge standen. Wenn ich Pech hatte, liefen sie sich also bereits hier an Deck über den Weg!
    Hallo, Herr Liebich, gerade hatte ich eine nette Begegnung mit Ihrer Tochter, und jetzt steht doch tatsächlich noch ein Name auf meiner Liste …
    Mir wurde fast ein wenig schwindlig, als ich mir die Szene vorstellte. Eine Ahnung streifte mich, die mit der Tragweite von Entscheidungen zu tun hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schrie aufs Geratewohl: »Mr Tatler …?«
    Einige Köpfe wandten sich zu mir um, mein Schrei hatte selbst in meinen eigenen Ohren ziemlich herzzerreißend geklungen, aber niemand gab sich zu erkennen. Waren Tatlers und meine Eltern auf der anderen Seite … und dort möglicherweise längst zusammengetroffen? Mit weichen Knien beeilte ich mich, zur Tür zu kommen.
    Als sich mein Blick im vertrauten Muster eines blau-weißen Seemannspullovers verfing. Pullover, Mütze, Brille … ich blieb stehen. Hatte Mischa nicht nach oben gehen wollen? Ein großer Herr mit freundlichem Gesicht schaute ernst zu ihm hinunter, hörte zu, streckte die Hand aus. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier wechselte den Besitzer.
    Erst dann entdeckte Mr Tatler mich, lächelte und nickte, aber mir hatte es die Sprache verschlagen. »No say«, hatte ich zu ihm sagen wollen und gehofft, dass er verstand.
    Ein Beben durchlief den Schiffsrumpf, als die Motoren sich wieder in Betrieb setzten. Mr Tatler drehte sich zurück zur Reling und hob den Fotoapparat.
    »Ich habe auch Freunde«, sagte Mischa leise.
    »Wie viele?«, flüsterte ich.
    »Nur drei! Und ich habe Mr Tatler gesagt, dass er nichts verraten darf.«
    In den nächsten Stunden sahen wir atemberaubende Bilder. Kleine ägyptische Dörfer, Bauernfamilien, die auf ihren Feldern arbeiteten, Karren, die von Rindern oder Wasserbüffeln gezogen wurden. Wir sahen eine Karawane aneinander festgebundener Kamele, deren Hälse im Gleichschritt wippten wie tanzende Schlangen, wir sahen Palmen und Sanddünen und den im Licht des sinkenden Sonnenballs langsam wachsenden, gestochen scharfen Scherenschnitt der Scharnhorst , der lautlos und geheimnisvoll neben uns über die Landschaft glitt. Die Fahrrinne zwischen beiden Ufern war an manchen Stellen so schmal, dass man an Land hätte springen können. Kinder badeten im seichten Wasser, Frauen wuschen Kleidungsstücke, Hunde liefen bellend neben uns her.
    Schiffe mit den Hoheitszeichen vieler Länder kamen uns entgegen und die Scharnhorst musste in Wartebuchten ausweichen, da der Verkehr aus dem Süden Vorfahrt hatte. Das fortwährende Klick-klick der Fotografen wurde zum Teil der Landschaft wie der Wüstensand, der zwischen meinen Zähnen knirschte, wie das Geplauder von Mischa.
    Obwohl die Sicht vom Promenadendeck so viel besser war und seine Eltern zweifellos längst nach ihm suchten, wich er mir nicht von der Seite. Er wies auf dies und jenes, erklärte mir alles Mögliche, was er vor der Reise eigens nachgelesen hatte; es war, als wollte er vermeiden, dass ich ihm, wenn er mich nur eine Minute zu Wort kommen ließ, Vorwürfe machte.
    Dabei konnte ich ihm nicht einmal böse sein. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte alles genauso gemacht wie er.

Weitere Kostenlose Bücher