Nanking Road
Das Einzige, was ich ihm übel nahm, war, dass er es heimlich getan hatte. Hätte ich gewusst, was er vorhatte, hätte ich doch auch Thomas’ Namen auf Mr Tatlers Liste gesetzt!
Ich starrte hinab in das bräunliche Wasser und versuchte mir einzureden, es sei gut, dass die Liste jetzt auf dem Weg war, je schneller, desto besser. Dass alles andere von Bekka abhing, die schaffte, was sie sich vornahm – ganz im Gegensatz zu mir, die unverzeihliche Fehler beging, wie den Namen eines Freundes zu opfern. Ich sagte mir, dass ich unmöglich ein zweites Mal zu Mr Tatler gehen und den Anschein erwecken konnte, seine Hilfsbereitschaft würde ausgenutzt, ja, sobald er den Kopf aus der Kabine steckte, würden Kinder an ihn heranschleichen und ihm Namen zustecken.
Ich redete mir ein, dass ich mein Bestes getan hatte, aber meine zuversichtliche Freude von vorhin war wie weggefegt. Aus den Tiefen des Kanals, den Windfiguren im Sand, aus den zerzupften Wattewolken, die über den Himmel huschten, flüsterten dieselben Worte: Nicht genug, nicht genug …
7
Im neuen Jahr lag der Indische Ozean vor uns. Hatte man im Roten Meer die eine oder andere Küste von fern noch erkennen können, und hatte das Fähnchen auf der Landkarte im Speisesaal, das unsere Position anzeigte, noch einen gewissen Halt geboten, so war es damit nun vorbei. Da waren nur noch das Meer und der Himmel und eine immer heißer auf uns niederbrennende Sonne, da trug uns nichts mehr außer unserem Schiff, das in der Weite des Ozeans mit einem Mal unfassbar klein und verloren wirkte.
Wenigstens ließen die Stürme uns in Ruhe. Die Mannschaft hatte, so hieß es, im Januar noch nie eine so ruhige Passage erlebt.
Irgendwo auf halber Strecke zwischen Asien und Afrika erschien eines Abends der Erste Offizier im Speisesaal. Mit finsterem Gesicht baute er sich neben der Tür auf, die meisten deutschen Tische im Rücken, die meisten jüdischen Tische im Blick. Es wurde mucksmäuschenstill. Die Raumtemperatur sank augenblicklich um mehrere Grad.
»Es hat sich vielleicht herumgesprochen«, schnarrte der Offizier und fixierte uns über seinen Schnäuzer hinweg mit strafendem Blick, »dass Passagiere sowohl der ersten als auch dieser Klasse sich wegen des Besuchs ungebetener Gäste an die Schiffsführung gewandt haben.«
Mir schoss die Hitze in die Wangen. Ungebetene Gäste …? Wir hatten unsere Fahrkarten teuer bezahlt, sogar ein Rückfahrtticket hatten wir erwerben müssen, obwohl von vornherein klar gewesen war, dass es verfallen würde. Wir hatten dasselbe Recht wie alle anderen, auf diesem Schiff zu sein!
Gut, ich war ab und zu auf der Seite der Deutschen, aber ich hatte nur ein einziges Mal in einem ihrer Liegestühle gesessen und das war am ersten Tag gewesen, als ich noch nicht wusste, wie die Dinge hier funktionierten. An den Gesichtern um mich herum konnte ich ablesen, dass anderen ähnliche Gedanken durch den Kopf schossen wie mir.
»What does he say? What does he say?«, flüsterte Mrs Tatler Papa zu, aber der war zu erstarrt, um zu übersetzen.
»Mäuse«, fuhr der Offizier fort, nachdem er die Spannung eine halbe Minute ausgekostet hatte, »gehören zu den unvermeidlichen Begleitern der Seefahrt. Das Vorhandensein von Mäusen an Bord ist nicht zu verhindern. Dass Mäuse in Ihre Kabinen vordringen, indes sehr wohl! Zu Beginn der Reise wurden Sie aufgefordert, die Schiffsordnung zu studieren, und an dem vermehrten Auftauchen von Mäusen in den letzten Tagen erkenne ich, dass etliche von Ihnen dies nicht getan haben. Für die Unannehmlichkeiten für sich selbst – und für Ihre Mitpassagiere! – sind die Betreffenden nun ganz allein verantwortlich!«
Der Offizier wippte herausfordernd auf den Zehenspitzen, um seine Worte zu unterstreichen.
»Es ist Ihnen ausdrücklich untersagt«, dröhnte er unvermittelt los, »Essen vom Büfett einzustecken und in Ihren Kabinen aufzubewahren! Ab morgen wird es überall auf dem Schiff unangekündigte Kontrollen geben und die Namen derer, bei denen wir Lebensmittel finden, werden für alle sichtbar am Schwarzen Brett veröffentlicht. Die von Mäusen befallenen Mitreisenden können sich dann bei Ihnen bedanken. Heil Hitler!«
Sprach’s, knallte die Hacken zusammen und ging. Ich versuchte, nicht zu meiner Mutter hinzusehen, aber die Hitzewelle, die von ihr ausging, war verräterisch genug.
Die Bewohner des Ozeans konnten sich in dieser Nacht über eine Fülle unerwarteter Leckerbissen freuen. Während Papa und ich gegen
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