Nanking Road
Wasser. Groß«, und er breitete warnend die Arme aus, »werden sie erst, wenn du sie geschluckt hast und sie sich von dir ernähren können.«
Meine vage Hoffnung, dass Mischa mich nur hochnehmen wollte, verging, als ich feststellte, dass auch andere an Bord bereits über diese Würmer diskutierten.
Zwölf Tage noch – und dann?
»Liebe Ziska«, schrieb Bekka, »danke für deine Postkarte aus Genua! Ich hoffe, sie haben euch doch noch an Bord gelassen. Hier nichts Neues, außer dass sich die Sache mit dem K. herumspricht wie ein Lauffeuer. Plötzlich will jeder Jude in Berlin seine Kinder rausbringen, aber wir sind ja zum Glück bestens vorbereitet. Ich hatte, während Herr Weitz von der jüdischen Gemeinde unseren Antrag aufnahm, die glückliche Idee, ein paar Sätze auf Englisch zu ihm zu sagen, das hat er hoffentlich weitergegeben.«
Ich ließ Bekkas Brief sinken und meinen Blick übers Deck schweifen, während ich an sie dachte. Überall saßen Auswanderer und lasen ihre Briefe von zu Hause. Einige, die keine Post bekommen hatten, weinten oder flüsterten miteinander, was das wohl zu bedeuten hatte. Die meisten Juden, die mit uns in der Touristenklasse reisten, kannten wir mittlerweile mit Namen – zumindest die, die mit uns redeten. Für die »Orthodoxen«, die mehrmals am Tag beteten und an Bord nichts als Obst und Wasser zu sich nahmen, waren wir »Assimilierten« Luft, erst recht, seit wir an der Weihnachtsfeier teilgenommen hatten.
Wie klug meine Freundin plante! Nichts überließ sie dem Zufall. Brauchte sie mich überhaupt? Im Postsack der Scharnhorst, der mit den Ausflüglern an Land gerudert worden war, befand sich meine zweite Karte an sie: auf der Vorderseite das Foto unseres Schiffes, hinten eine Schilderung unseres Lebens an Bord. Das gute Essen, die gemütliche Kabine, die Delfine, die wir im Ozean gesehen hatten.
Kein Wort von Mr Tatlers Liste. Ich wusste einfach nicht, wie ich Bekka beibringen sollte, dass Thomas’ Name fehlte. Log ich: »Ich habe eure Namen auf eine bessere Liste gesetzt«, konnte es ans Licht kommen, wenn Bekka nach der Ankunft in England die Liste je mit eigenen Augen sah. Sagte ich die Wahrheit: »Ich habe deinen Namen aufgeschrieben«, würde sie sofort nach Thomas fragen.
Es half nichts: Ich würde warten müssen, bis Bekka sich aus England meldete, erst dann konnte ich sie bitten, meinen Cousinen zu helfen. Und falls ich diejenige war, der sie ihren Platz auf dem Kindertransport verdankte, würde sie es nie erfahren.
Ich musste mir eingestehen, wie sehr mich das wurmte. Immer war sie diejenige gewesen, die die besten Ideen hatte; wie gern hätte ich ihr bewiesen, dass auch ich etwas zuwege brachte! Dabei hätte sie es wahrscheinlich gar nicht nötig gehabt, dass ich ihren Namen auf Mr Tatlers Liste setzte – im Gegensatz zu Evchen und Betti, den beiden kleinen Nervensägen, die jetzt zwischen den Namen älterer, unkomplizierterer, sympathischerer Kinder verschwanden …
Bei der Vorstellung, Bekka könne den beiden von England aus keinen Platz besorgen, wurde mir ganz flau im Magen. Es wäre nicht der erste Plan von Ziska Mangold, der nicht aufgegangen war. Wenn meine Eltern je davon erfuhren …
Hastig brach ich diesen schweißtreibenden Gedanken ab und versuchte mich auf die zweite Seite des Briefes zu konzentrieren, auf der Bekka berichtete, wie sie und ihre Familie zum Rathaus hatten gehen müssen, um ihre zusätzlichen Vornamen eintragen zu lassen. Vom 1. Januar an hatte in den Pässen aller jüdischen Frauen und Mädchen der Name Sara zu stehen, in denen der Männer und Jungen der Name Israel. Meine Eltern und ich waren dieser seltsamen Vorschrift um nur wenige Tage entgangen.
»Wir haben deine Tante mit deinen Cousinen dort gesehen«, berichtete Bekka, »aber sie hat nicht gegrüßt. Kennt sie uns nicht mehr? Ist irgendwas? Mami hat sich Sorgen gemacht und auf dem Rückweg bei ihr geklingelt, aber es machte niemand auf.«
Abermals ließ ich den Brief sinken und mein Herz sank gleich mit. Wenn meine Mutter Bekkas Seiten lesen wollte, würde dieser kleine Absatz ihr, falls das überhaupt noch möglich war, den Rest geben. Denn auch Mamu hatte einen Brief bekommen.
Berlin, den 26.12.1938. Liebe Margot, nun sitzt du also irgendwo in der Sonne und willst wissen, wie es uns geht. Du kannst deinem Mann sagen, dass das Auto in Sicherheit ist und über eure Freunde wohl einen guten Preis erzielen wird. Die beiden geben sich alle Mühe, die Scherben
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