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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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schoss der Ärger in die Wangen und ich verbiss mir die Antwort: Wenn du dich für uns schämst, bleib ruhig selber oben! Stattdessen sagte ich spitz: »Langsam kommen mir nämlich Zweifel, ob es diesen Rainer überhaupt gibt!«
    Mischa legte den Kopf in den Nacken und lachte so herzhaft, dass ich mir noch überflüssiger vorkam.
    Nebeneinander hingen wir an einem der letzten Vormittage noch einmal über der Reling und schauten hinunter. Das Wasser war grau, trübe und voller Schlieren. »Weit ist es jetzt jedenfalls nicht mehr«, meinte Mischa.
    »Wisst ihr schon, was ihr nach der Ankunft als Erstes macht?«, fragte ich.
    »Papa will eine Wohnung im französischen Sektor suchen. Da ist es am schönsten, das sagen alle. Rainer wohnt auch da, er will mir die Gegend zeigen.«
    Ich spürte einen kleinen Stich der Enttäuschung, der Verlassenheit beinahe. Verglichen mit Bekka hielt ich Mischa und mich nicht gerade für befreundet, aber im Stillen hatte ich damit gerechnet, dass wir einander helfen würden, sobald wir in Shanghai ankamen.
    »Vielleicht könnt ihr sogar auf dieselbe Schule gehen«, meinte ich und spürte eine Träne im Auge brennen, weniger Mischas als meines eigenen Edelmuts wegen.
    »Das glaube ich kaum«, erwiderte Mischa. »Rainer geht auf die Kaiser-Wilhelm-Schule. Für uns gibt es nur die International Jewish School, dort sind viele Flüchtlinge.«
    Flüchtlinge! Fast hätte ich protestiert. Wir waren Juden, daran hatte ich mich gewöhnt, obwohl ich es bis vor wenigen Jahren selbst nicht gewusst hatte, und Juden, die es aus Deutschland herausschafften, waren Auswanderer, Emigranten, Exilanten. Es gab viele Worte für uns, während wir unterwegs waren. Aber ankommen, da hatte Mischa Recht, würden wir als Flüchtlinge, und obwohl es nur ein Wort war und an unserer Situation überhaupt nichts änderte, machte es mir plötzlich ein wenig Angst.
    »Und wenn ihr eure Wohnung gefunden habt?«, fragte ich rasch.
    »Papa will eine Praxis eröffnen, mit Mama als Sprechstundenhilfe. Und bei jedem Stopp …«, er senkte die Stimme. »Sie hat während der Reise unsere Praxisausstattung zusammengekauft. In Genua, in Colombo, in Singapur … alles, was sich transportieren lässt.«
    »Ach, dafür war also der neue Koffer?«
    »Genau. Papa musste seine Praxis mit allem Inventar abgeben und sein Nachfolger hat wie ein Luchs aufgepasst, dass wir nichts mitnahmen. Dauernd tauchte er auf und wollte die Buchführung sehen, jeden Wattebausch musste Mama aufführen! Glaubst du«, fragte Mischa, »dass die Deutschen irgendwann die Strafe bekommen für all das?«
    »Ganz bestimmt!«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
    Er sah mich schräg an. »Da bin ich aber froh. Papa sagt, dein Vater denkt anders darüber.«
    »Mein Vater?« Ich runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
    »Dein Vater will nach Deutschland zurück, hat meiner gesagt. Stimmt das?«
    Ich trat einen Schritt zurück. »Erstens stimmt es nicht, und zweitens … wieso redet ihr hinterrücks über meinen Vater?«
    »In unserer Kabine können wir ja wohl reden, über wen wir wollen!«
    Ärger schlug über mir zusammen wie eine heiße Welle. Natürlich war das so, in unserer Kabine redeten wir ja auch über Konitzers, aber erst Rainer und jetzt die Vorwürfe gegen Papa … mir platzte der Kragen.
    »Dann geh doch wieder in deine feine Kabine!«, fuhr ich Mischa an. »Bei uns hier unten habt ihr sowieso nichts verloren!«
    »Nun reg dich doch nicht gleich auf! Ihr geht sowieso nicht zurück, das weiß ich doch.«
    »Aha, und woher?«, rief ich empört.
    »Na, weil deine Mutter es zu meiner gesagt hat.«
    Ich stieß mich von der Reling ab und ließ ihn stehen. Sprühregen hatte eingesetzt und graue Schwaden hingen über dem Wasser, die sich im Laufe des Nachmittags zu Nebel zusammenziehen und uns laut Wettervorhersage für den Rest der Strecke begleiten würden. Wenn wir Pech hatten, erreichten wir unser lang erwartetes Ziel, ohne irgendetwas davon zu sehen.
    Papa wollte also nach Deutschland zurück und Mamu nicht. Na und? Das hätte ich auch ohne Mischa gewusst! Er brauchte sich nicht einzubilden, er hätte mir irgendetwas Neues mitzuteilen, und erst recht nicht, dass ich ihm verraten würde, was Papa und Mamu vielleicht irgendwann einmal vorhatten. Abgesehen davon, dass wir im Augenblick ja noch nicht einmal dort angekommen waren, wohin wir aus Deutschland geflüchtet waren.
    Geflüchtet. Da war es schon wieder, dieses Wort. Wie lange würde es

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