Nanking Road
vergewisserte ich mich noch einmal.
Papa antworte nicht. Vielleicht hatte er mich nicht gehört. Der Lärm vor dem Bug der Scharnhorst nahm zu, je näher wir dem Hafen kamen – es war wie in anderen Küstenstädten, in denen wir unterwegs angelegt hatten. Dutzende Boote und Flöße trieben auf dem Fluss und man musste fürchten, dass sie in den Sog unserer Schiffsschraube gerieten, doch die Ruderer wichen geschickt aus.
Stundenlang lagen wir in der Mitte des Huangpu-Flusses vor Anker und warteten, dass ein Anlegeplatz frei wurde. Shanghai war ein Freihafen, es war eine Menge los. Containerschiffe legten an und wurden entladen, und unmittelbar vor uns kam ein großes italienisches Passagierschiff an die Reihe, die Conte Rosso .
Eine Mahlzeit gab es an Bord jetzt nicht mehr und wir standen abwechselnd entweder an der Reling oder saßen in der Kabine bei unseren gepackten Koffern. In meinem Magen kribbelte es, eine Mischung aus Vorfreude und Angst. Um mich zu beruhigen, versuchte ich, in meinem Kopf an Bekka zu schreiben, aber ich fand nur Bruchstücke von Sätzen.
Ich wünschte, sie wäre bei mir gewesen. Ich vermisste sie schon die ganze Zeit, aber erst jetzt spürte ich, was unsere Trennung wirklich bedeutete. Unser ganzes Leben waren wir zusammen gewesen, hatten alles gemeinsam unternommen. Es hätte so bleiben müssen! Meine Eltern hatten einander, aber ich, ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, ohne Bekka auszukommen!
Endlich sprangen die Motoren wieder an und wir bewegten uns so langsam und majestätisch auf unseren Anlegeplatz zu, wie es sich für einen Ozeanriesen inmitten lästiger kleiner Boote gehörte. Der Nebel hatte sich aufgelöst und die Stadt schien so nah, dass man ein Lasso danach hätte werfen können. Ich sah die Schaufenster der Geschäfte, protzige Bankhäuser mit Portalen wie im alten Rom, ich sah die dicken Lettern der Kinowerbung und livrierte Pagen unter den Baldachinen der Nobelhotels. Die Gebäude waren mit Fahnen übersät, oft mehrere nebeneinander, wobei das Rotweißblau des britischen Union Jack dominierte. Auch die meisten Schilder und Kinotitel waren auf Englisch. Mr und Mrs Tatler konnten sich vom ersten Augenblick an zu Hause fühlen.
Die beiden Engländer hatten sich am Morgen von uns verabschiedet und uns viel Glück gewünscht, und ich hatte erwartet und gehofft, dass Mr Tatler mir wenigstens kurz zuzwinkerte, um zu besiegeln, dass er mir etwas versprochen hatte. Aber er ließ sich nichts anmerken.
Hieß das, er hatte Bekka vergessen? Oder nahmen Engländer das Siegel der Verschwiegenheit so ernst, dass sie auch Mitverschwörern gegenüber keinerlei Zeichen des Erkennens mehr gaben? Wieder rächte sich, dass ich mich geweigert hatte, Englisch zu lernen. Hätte ich es gekonnt, hätte ich Mr Tatler zuflüstern können, dass in anderen Ländern ein Zwinkern durchaus erlaubt gewesen wäre. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf ihn zu verlassen.
Vor allen anderen durften die Passagiere der ersten Klasse von Bord. Niemand schien es hier besonders eilig zu haben. Zwischen kleinen Gruppen, die plaudernd die Treppe hinunterspazierten – oft mit Bediensteten im Gefolge, die die Koffer trugen –, gab es größere Lücken, sodass sich in der Touristenklasse allmählich ein Murren erhob, weil wir umso länger warten mussten. Wie eine Herde Schafe drängten wir uns an der Reling, stolperten über die Gepäckstücke zu unseren Füßen und spähten zu den Tischen, die am Kai aufgestellt waren.
Männer in Hut und Mantel saßen dahinter und erwarteten uns. Ich beschloss, vorbereitet an Land zu gehen, und wollte bei den Passagieren der ersten Klasse abschauen, wie man sich an den Tischen zu verhalten hatte. Aber die meisten spazierten einfach daran vorbei und winkten Rikschas herbei, Gefährte auf zwei großen Rädern, die an Sulkys erinnerten – mit dem Unterschied, dass kein Trabrennpferd davor gespannt war, sondern die Chinesen selber zogen. Auf jeweils eine Rikscha wurde das umfangreiche Gepäck geladen, auf eine zweite die dazugehörigen Passagiere, dann zogen die Kulis an und trabten auf bloßen Füßen los.
Unter denen, die an Land gingen, entdeckte ich bald auch Konitzers und beobachtete, wie Mischa sich per Handschlag von einem Jungen verabschiedete. Das also war der geheimnisvolle Rainer! Bestimmt würde er seinen jüdischen Reisegefährten bald vergessen haben. Ich war Mischa nicht mehr böse wegen dem, was er über meine Eltern gesagt hatte, aber ein
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