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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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für uns gelten? War man noch Flüchtling, wenn man eine Wohnung hatte? Die Sprache des neuen Landes sprach? Neue Freunde fand?
    Wer bestimmte, wann man aufhörte, Flüchtling zu sein – oder musste man selbst darauf achten? Vielleicht wachte man ja eines Tages auf und merkte: Jetzt ist es soweit …
    Ich hatte noch keine Ahnung, wie es sein würde, aber ich nahm mir fest vor, den Moment nicht zu verpassen und nur so kurz wie möglich Flüchtling zu bleiben.
    Meine Freundin Bekka betrachtete das Thema Auswanderung von der praktischen Seite. Das Ziel sei unwichtig, behauptete sie, und wenn das eine scheiterte, wandte man sich eben der nächsten Möglichkeit zu. Ein einziges Mal hatte ich sie weinen sehen: als ihr Vater verhaftet worden war und sie mir gleichzeitig gestehen musste, dass aus ihrer Ausreise in die USA nichts wurde.
    Aber schon kurz darauf hatte sich der Weg nach England aufgetan und seitdem verschwendete Bekka keinen Gedanken mehr an Amerika. Ganz bestimmt war es ihr auch vollkommen egal, wie es in England aussah ! An diesen Gedanken klammerte ich mich, als wir durch Nebelschleier einen ersten Blick auf das Land werfen konnten, das als Einziges bereit gewesen war, uns aufzunehmen.
    Von Shanghai war nämlich nichts mehr übrig. Es war so kaputt, dass die Leute nur noch auf dem Wasser wohnen konnten. Schwarze Fensterhöhlen, abgebrochene Dächer, halb eingestürzte Wände glitten stumm an uns vorbei wie Schatten, die über Gräber schwebten.
    Leben gab es nur noch vor unserem Bug. Ich schnappte unwillkürlich nach Luft, als ich, seltsam schnatternden Lauten folgend, aufs Wasser hinunterblickte. Ganze Chinesenfamilien trieben auf flachen Holzbooten mit und ohne Segel und grinsten zu uns hoch. Auf den Planken waren die fadenscheinigsten Bruchbuden zusammengezimmert und bei dem Geschnatter handelte es sich ganz offensichtlich um die Landessprache. Nach Luft zu schnappen war allerdings ein Fehler, denn vom Wasser stieg ein Geruch zu uns hinauf, der sehr stark an die tote Katze erinnerte, die Bekka und ich einmal in einem Gebüsch gefunden hatten. Klos gab es auf den Booten offensichtlich nicht und auch Abfall anderer Art wurde direkt ins Wasser geworfen, wie der vorbeitreibende Müll verriet.
    Oder besser: Die Scharnhorst trieb und der Müll blieb, wo er war. Die Wasseroberfläche war mehr oder weniger davon bedeckt und wir wühlten ihn nur ein wenig auf. Irgendwo in meiner Nähe brach eine Frau in Tränen aus, während wir alle entgeistert auf den unappetitlichen Fluss hinunterstarrten.
    Doch als ich wieder den Kopf hob, hatten wir die Trümmerlandschaft hinter uns gelassen und kreuzten einen schmalen Nebenfluss, den in einiger Entfernung eine gewölbte Brücke überspannte. Gleich darauf kamen weitere Gebäude ins Blickfeld und die Anspannung an Bord löste sich in Rufen und Gelächter.
    Natürlich! Das war Shanghai! Nicht die verbrannten Trümmer und im Unrat schwimmenden Flöße, sondern schimmernde Wolkenkratzer an einer breiten Prachtstraße.
    »Hurra!«, schrie jemand. »Wir sind in Amerika!«
    Eine fast andächtige Stimmung kam auf, als die herrschaftlich anmutenden Bauten näher kamen. Eins war schöner als das andere und nicht einfach grau oder braun wie die meisten Häuser in Berlin, sondern mit kunstvollen Ornamenten versehen. Trotz des diesigen Wetters hörte ich Kameras klicken, um jeden Augenblick der eben noch gefürchteten Ankunft im Bild festzuhalten. Orthodoxe murmelten Dankgebete.
    Und verstummten. Stille legte sich über das Schiff, als hätte uns jemand die Luft abgedrückt. Direkt vor uns wehte eine Hakenkreuzfahne.
    Das war zu viel für einige der Männer. Sie drehten sich vor Entsetzen um oder verließen sogar fluchtartig das Deck.
    Mein Vater biss die Zähne zusammen und sagte eine Weile nichts. Erst als die Fahne aus dem Blickfeld geschwebt war, bemerkte er: »Na, das war wohl zu erwarten.«
    »Was machen denn die Deutschen hier?«, flüsterte ich.
    »Das ist bestimmt das Generalkonsulat, Ziska. Erinnerst du dich an die Botschaften in Berlin? Jedes Land hat Vertretungen im Ausland und hängt dort seine Fahne auf.«
    »Dann ist es also ganz normal, dass hier die Nazifahne hängt?«
    »Ja, Kind«, erwiderte Papa fest. »Das ist ganz normal.«
    Mamu schob ihren Arm unter den seinen und ließ ihn dort, nachdem das deutsche Generalkonsulat schon längst aus unserem Blickfeld verschwunden war.
    »Du meinst, die Deutschen sind hier, aber sie können uns nichts mehr anhaben?«,

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