Nanking Road
bisschen Schadenfreude verspürte ich trotzdem, als er Rainer nachblickte. Und Enttäuschung, dass er, der immerhin für kurze Zeit fast mein Freund gewesen war, sich nicht einmal umdrehte, um zu uns hinaufzuwinken.
Als die Gangway endlich für die Touristenklasse freigegeben wurde, gab es oben ein großes Gedränge und unten einen Stau, weil einige, kaum dass sie die Treppe verließen, Anstalten machten, den Boden zu küssen – so schien es mir wenigstens, bis ich selbst an die Reihe kam und die Erde unter mir nachgab. Nach über vier Wochen an Bord, ohne auch nur ein einziges Mal an Land zu dürfen, war »fester Boden« ein Gefühl, als laufe man über dicke Kissen.
Mit unsicheren Schritten gingen wir auf die bereitstehenden Tische zu, von denen wir annahmen, es handle sich um eine sehr schlichte Version der Zoll- und Einwanderungsbehörde. Meine Mutter flüsterte etwas, in dem das bange Wort Stempel vorkam; die Angst vor der fehlenden medizinischen Untersuchung holte sie ein, kaum dass sie einen Fuß an Land gesetzt hatte.
Aber zu unserem Erstaunen standen auf den Tischen Schilder mit der Aufschrift: Jewish Relief Committee. Es gab weder eine Einwanderungsbehörde, noch Zoll, noch Pass- oder Gepäckkontrolle. Wer vom Schiff kam, durfte direkt in die Stadt spazieren!
Und dies war der zweite Schock: Niemand wurde mehr behelligt. Statt uns zu kontrollieren, rief der Herr am nächstgelegenen Tisch auf Deutsch: »Bitte kommen Sie kurz zu mir, es ist für Ihre Ankunft schon alles vorbereitet!«
Papa stellte seinen Koffer ab und gab dem Herrn die Hand. Er wollte uns auch vorstellen, aber der Herr schien sich für unsere Namen noch nicht zu interessieren.
»Dort drüben warten Lastwagen, um Sie zu einem der Heime zu bringen«, erklärte er ein wenig gehetzt. »In den Heimen erhalten Sie alle Hilfe, um schnell für sich selbst sorgen zu können. Hier«, er drückte Papa ein Blatt Papier in die Hand, »sind ein paar wichtige Informationen. Und melden Sie sich in den nächsten Tagen auf dem Generalkonsulat.«
Das war alles. Er schüttelte uns allen die Hand und fügte hinzu: »Herzlich willkommen in der freien Stadt Shanghai!«
»Der Stadt über dem Meer«, korrigierte ich, was dem Herrn immerhin ein Lächeln entlockte, bevor er sich eilends dem nächsten Ankömmling zuwandte.
Wir gingen einen Schritt weiter, waren am Tisch vorbei – und in China. Mittendrin. Rikschas rollten uns fast über die Füße, ein Gewusel von Menschen umströmte uns, als wären wir Steine in einem Strom. Stimmen riefen und schnatterten durcheinander und ein seltsamer Geruch erfüllte die Luft, eine Mischung aus vergammelndem Müll, rauchender Kohle und dampfenden, undefinierbaren Speisen, die in Töpfen und Pfannen direkt am Straßenrand feilgeboten wurden.
Ich stand wie angewurzelt. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen, der fremdartige Duft wehte geradewegs in meinen Magen. Eine zahnlose Chinesin lächelte mich an, hob ein Schälchen, um es für mich zu füllen … und ich stellte als Erstes fest, dass die Welt über die Chinesen belogen wurde. Sie waren nämlich überhaupt nicht gelb, sondern blassbraun!
Papa warf einen Blick auf das Informationsblatt. »Hier steht, dass wir auf keinen Fall aus den Garküchen essen dürfen.«
Die Chinesin und ich wechselten einen enttäuschten Blick, als ich von meinen Eltern weitergezogen wurde.
Auf dem Weg zu den Lastwagen wurden wir bereits erwartet. »Maurer?«, wurde Papa entgegengerufen und auch als Bäcker, Koch oder Schreiner hätte er direkt vom Schiff weg anheuern können. Auf seine Antwort »Ich bin Rechtsanwalt« wandten sich die Suchenden allerdings gleich wieder ab und sprachen den nächsten Kandidaten an.
Mamu bekam zwei Angebote als Barfrau. Die Arbeitgeber teilten ihr mit, sie würden auch am nächsten Tag wieder am Anleger stehen, für den Fall, dass sie es sich überlegte.
Zeit zu überlegen war nämlich nicht, denn auf der offenen Ladefläche dreier Lastwagen standen schon zahlreiche Mitreisende und warteten darauf, dass es weiterging. Mitsamt Gepäck kletterten wir über eine Stiege hinauf und wurden oben so geschickt zusammengedrückt, dass keiner während der Fahrt umfallen konnte, auch nicht die, die vor Schreck kaum stehen konnten. Mein Gesicht versank in seidenweichem, nach Mottenkugeln duftendem Pelz, feine Härchen kitzelten meine Nase und ich musste herzhaft niesen, worauf die Besitzerin des Mantels einen Protestschrei ausstieß und den vergeblichen
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