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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Raum diesmal, den auf ganzer Länge eine steinerne Rinne durchzog. Die Rinne sah aus wie ein Futtertrog und zwei Dutzend Frauen und Kinder konnten sich gleichzeitig nebeneinander waschen. Als wir an die Reihe kamen, standen wir zentimetertief im Wasser. Die Toilette funktionierte nach demselben Prinzip: ein langes Holzbrett mit Löchern darin, unter denen Eimer standen. Weitere Bretter stellten zwar Trennwände dar, allerdings hatte man am Holz gespart und durch den hohen Türspalt waren die Beine der dahinter Sitzenden gut zu erkennen. Ein kleines Kind ging, während wir vor dem Klo anstanden, an den Türen entlang, fand problemlos die Schuhe seiner Mutter und schlüpfte flink zu ihr durch.
    »Helgachen, nu lass mich doch mal ne Minute alleene!«, schalt es aus dem Abteil.
    Meine größte Sorge war, für alle sichtbar neben den Eimer zu zielen, aber der stand offenbar an einer erprobten Stelle.
    Mamu zog den Vorhang um unser Bett. Wir hatten nicht unbedingt damit gerechnet, ein Bett teilen zu müssen, aber gemessen daran, wie schnell wir uns in den letzten Wochen an Schlafen, Ausziehen und Waschen im selben Raum gewöhnt hatten, würde es bald nichts Besonderes mehr sein. Oben lag Papa, ohne Vorhang, und wir klopften ihm gute Nacht.
    »Als Allererstes«, flüsterte Mamu grimmig, »müssen wir hier raus!«
    »Ich bin dabei«, meinte ich, was ihr ein leises Kichern entlockte.
    Auf der anderen Seite des Vorhangs schlurften Schritte, murmelten fremde Stimmen und hustete es hier und da, bis binnen Kurzem von irgendwo das erste Schnarchen zu vernehmen war. Meine Mutter lag neben mir, angespannt wie ein zu fest geschnürter Strohsack, und voller Vertrauen meinte ich zu spüren, wie Strategien zu unserer Flucht aus dem Ward Road-Heim ihr bereits vom Kopf in die Beine schossen.
    Auch das Wort Straße enthielt mehr Bedeutungen, als ich geahnt hatte, denn die Straßen in Shanghai dienten nur zum geringsten Teil der Fortbewegung. Auf der Straße wurde gewohnt – Obdachlose und Bettler trugen Bambusmatten auf dem Rücken, um sie zur Nacht irgendwo auszurollen, Rikschakulis legten sich an der letzten Station ihrer Tour einfach unter die Karren –, hier wurde gegessen, sich an Pumpen gewaschen und in die Rinne gepinkelt, die jede Straße in voller Länge durchzog. Die Straße war das Büro von Briefeschreibern, ein blühender Berufszweig, und die Praxis von Ärzten, die ihre Instrumente in Koffern mit sich führten, um den Patienten gleich auf der Straße in den Mund zu schauen.
    Man starb auch auf der Straße, aber das wusste ich an unserem ersten Morgen noch nicht. Vorsichtig, um sie nicht etwa anzustoßen, gingen wir an den reglosen, mitten im Weg zusammengesunkenen Gestalten vorbei und nahmen an, dass sie schliefen. Auch was in Bastmatten gewickelt am Straßenrand auf Abholung wartete, konnten wir nicht ahnen und stiegen behutsam darüber hinweg.
    Ein drittes Wort, das ich bisher nicht restlos verstanden hatte – obgleich ich immerhin schon geahnt hatte, dass es auf Liebichs nicht passte –, hieß Armut . Wie hätte ich mir in Berlin halb verhungerte Menschen vorstellen können, aus deren zerfetzter Kleidung jede einzelne Rippe hervorstach, Menschen, die von offenen, faulenden Wunden oder über und über von schwarzen Beulen bedeckt waren? Manchen fielen die Haare in Büscheln aus, andere hatten, wo Augen gewesen waren, eine weißlichblaue, verklebte Wölbung. Man sah so viel Armut , dass der Blick gar nicht wusste wohin.
    Tief in die Glieder fuhr auch das Wort Lärm . Die gellenden Marktschreie der Verkäufer und Garköche mischten sich mit den Hilfeschreien der Hühner und Enten, die in Körbe gezwängt ihrer Schlachtung entgegensahen, und dem durchdringenden Gebimmel von Glöckchen, mit denen alle paar Meter ein Blinder auf sich aufmerksam machte. Die Leute stritten, lachten und palaverten wie Trommelfeuer. Hätte ich mitgeschrien, und ich stand kurz davor, ich hätte mich selbst nicht einmal hören können.
    Leider war auch der Gestank, der alle diese neuen Wörter untermalte, in der Zwischenzeit nicht verschwunden. Hatten wir ihn am Vortag noch aus der luftigen Höhe des LKW gerochen, so standen wir jetzt mittendrin. Wie ein dünner Lavastrom wälzte sich eine vielfarbige Suppe durch den Rinnstein, man konnte nur ahnen, woraus sie sich zusammensetzte. Der Gestank heftete sich uns an, sobald wir das Heim verließen, er war in der Luft und am Boden und einfach überall. Er war mit nichts vergleichbar, das ich in meinen

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