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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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bisherigen Erinnerungen hätte finden können, und während ein Teil von mir durch die Zähne atmete, über Abfall, Exkremente und im Weg liegende, von Lumpen bedeckte Körper stieg, stieg ein anderer Teil von mir einfach auf, trennte sich, schwebte über mir und meinen Eltern und sah uns kühl und überlegt beim Weitergehen zu.
    Das war der Teil, der einen klaren Kopf behielt und mir die Wegbeschreibung einhämmerte: Immer geradeaus und wir sehen die Garden Bridge, die Brücke zum internationalen Sektor. Kurz davor liegt das Büro der jüdischen Hilfsorganisation. Egal, wie es riecht und was auf dem Boden liegt: Wir sind auf dem richtigen Weg.
    Nach nur wenigen Minuten machte ich jedoch eine weitere unheimliche Entdeckung: Als Gruppe auf dem Lastwagen hatte man uns ignoriert, aber das änderte sich schlagartig, sobald wir allein unterwegs waren. Wer immer uns entgegenkam, hatte keinerlei Hemmungen, stehen zu bleiben und über uns zu lachen; ja, plötzlich streckte eine Frau die Hand aus und fasste mich an und danach wollten andere auch!
    So musste es sich anfühlen, mit wilden, fremden Wesen eingesperrt zu sein. Obwohl ich gelernt hatte, dass man vor allem, das wild war, auf keinen Fall Angst zeigen durfte, schlüpfte ich entsetzt zwischen meine Eltern und ließ mich zur Seite abschirmen, was allerdings nur zur Folge hatte, dass mir nun ab und zu von hinten etwas übers Haar strich.
    Bekka hätte geboxt, dachte ich in meiner Not, aber diesmal half die Anrufung meiner fernen Freundin nichts. Meine einzige, völlig wirkungslose Waffe gegen das unerhörte Verhalten der Chinesen bestand darin, das Starren und Anfassen in einer Weise zu ignorieren, die die Frauen irgendwie von selbst darauf brachte, dass ich mich belästigt fühlte.
    Aber offenbar musste man sich hier auch von der bisherigen Bedeutung des Wortes Benehmen verabschieden. Noch bevor wir das Gebäude der jüdischen Hilfsorganisation erreicht hatten, schwante mir, dass ich mit dem, was ich in Deutschland gelernt hatte, in Shanghai nicht weit kommen würde.
    Dasselbe galt leider für meinen Vater.
    »Es gibt hier keine Möglichkeit für Sie, als Rechtsanwalt zu arbeiten«, sagte der Mitarbeiter der Hilfsorganisation ohne Umschweife. »Was wollen Sie mit deutschem Recht in China?«
    Papa nickte blass, als habe er auf genau diese Frage bereits gewartet.
    Der Mann am Schreibtisch schraubte seinen Federhalter auf. Er hatte eine Akte mit unseren Namen angelegt, die nun blütenweiß vor ihm lag, bereit, Angaben über die praktischen handwerklichen Kurse aufzunehmen, die meine Eltern in Vorbereitung auf die Ausreise in Berlin belegt hatten.
    »Welche Kurse?«, fragte Papa leise, bevor Mamu energisch übernahm: »Es war keine Zeit für Kurse. Mein Mann ist eine Woche vor unserer Ausreise aus Sachsenhausen entlassen worden. Schreiben Sie auf, dass ich Steno und Schreibmaschine kann.«
    »Auf Englisch?«, fragte der Mann.
    Mamu schluckte. »Mit deutscher Stenografie und Schreibmaschine ist hier nicht viel anzufangen«, sagte unser Berater spitz.
    Plötzlich warf er seinen Federhalter hin, atmete tief aus und lehnte sich zurück.
    »Es ist immer wieder dasselbe«, sagte er wie zu sich selbst. »Die Leute warten bis zum letzten Augenblick, bereiten sich nicht vor, nein, lassen sich aus dem Land werfen, als wären sie trotz allem, was sie seit Jahren erleben, nie auf den Gedanken gekommen, dass ihnen etwas passieren kann. Und dann kommen sie zu uns, stehen da und erwarten ein Wunder.«
    Mamu stand auf. »Entschuldigen Sie. Uns war gesagt worden, wir bekämen hier Hilfe, aber da liegt ja wohl ein Missverständnis vor. Komm, Ziskele.«
    Sie zog mich am Arm. Ich stand verblüfft auf, Papa ebenfalls. »Nun warten Sie schon«, sagte der Berater, seufzte und wurde etwas freundlicher. »Sie sind im Ward Road-Heim? Küchenhelfer werden immer gesucht und es gibt sowohl Sprach- als auch handwerkliche Kurse. Wie wäre es mit Schneidern? Sie hätten gleich ab morgen etwas zu tun.«
    »Na schön«, erwiderte Mamu, nahm zögernd wieder Platz und setzte ein Danke hinzu, das ihr schwerfiel.
    Auch ich schob mich zurück auf meinen Stuhl. Dessen Oberfläche war glatt wie eine Eisbahn, als wären schon viele Hintern unbehaglich vor dem Berater herumgerutscht. Erst jetzt entdeckte ich zwischen den vielen Ordnern auf seinem Schreibtisch ein Schild, auf dem der Name Jonathan Brod stand.
    »Sie müssen mich bitte verstehen«, warb Herr Brod. »Die jüdische Gemeinde Shanghai ist am Rande des

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