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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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gab, das zwischen den Mangolds aus Berlin-Neukölln und dem Wort Flüchtlinge stand, erhob sich unser Nachbar, kam auf uns zu und gab Papa die Hand.
    »Fritz Hamburger, Mainz«, stellte er sich vor und fügte unter dem Gelächter der Umliegenden hinzu: »Willkommen im Ward Road-Heim, dem schönsten Obdachlosenasyl Shanghais!«

9
    Ich hatte es ja geahnt – das Thema Sprache sollte mich wieder einholen. Meine Probleme beschränkten sich allerdings nicht darauf, weder Englisch noch Chinesisch zu können: Auch mein deutscher Wortschatz passte mit einem Mal nicht mehr zu dem, was ich mein Leben lang damit verbunden hatte, und wie sich ziemlich schnell herausstellte, würde ich nicht nur eine neue Sprache, sondern noch einmal ganz neu denken lernen müssen.
    Beim Wort Heim fing es an. Solange ich eins gehabt hatte, hatte ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, und obwohl ich mittlerweile wusste, dass ein Heim nicht selbstverständlich war und wie schnell man seins verlieren konnte, wäre ich nie darauf gekommen, dass ein Heim etwas anderes sein konnte als ein Zuhause. Das Ward Road-Heim war das Gegenteil eines Zuhauses, ein Ort, von dem man nicht schnell genug wieder verschwinden konnte, und dennoch hieß es unter den Emigranten nicht nur »Heim«, sondern »das Heim«, als ob von diesem Wort nichts anderes mehr zu erwarten war.
    Am Abend standen wir zum ersten Mal in der Essenschlange an, um uns zahllose Leute mit Löffeln und Blechschüsseln. Viele waren neu wie wir; man erkannte sie an dem verstörten Blick und den Handschuhen, die manche der vornehmeren Damen noch trugen. Mit einem schleimigen »Klatsch« fiel eine Kelle Brei in jede Schüssel und wir rückten zum nächsten Schalter vor, um eine Becherfüllung Tee entgegenzunehmen.
    Misstrauisch untersuchte ich meinen Napf. Auf dem weißlichen Brei klebte, wohl als Sauce, ein großer grüner Fleck, in dem Stücke von etwas Undefinierbarem eingeschlossen waren wie hilflose Urzeittierchen in einem Harztropfen. Auf dem Weg zurück in unseren Schlafsaal hielt ich mein Essen auf Armeslänge von mir, weil ich mich nicht einmal traute, daran zu riechen.
    Meine Mutter tauchte ihren Löffel in den Brei und hob aus dem Schleim eine große Portion, die zäh nach links und rechts vom Löffel troff. Gebannt sah ich die bedrohliche Masse auf ihren Mund zufahren, aber zu meiner Erleichterung berührte Mamu den Löffel zuerst nur ein klein wenig mit den Lippenspitzen. »Gar nicht so schlecht«, behauptete sie tapfer, worauf auch Papa vorsichtig probierte.
    Ich wollte ihnen keine Schande machen. Ich schaufelte den grünen, glibberigen Fleck ein wenig beiseite und schaute mir genauer an, was darunter lag.
    »Grüne Datteln kannst du ruhig essen, Kleine«, bemerkte Herr Hamburger, griff unter seine Bettdecke und zog eine Blechdose hervor, der er ein Stück Weißbrot entnahm. Sorgfältig zerriss er es zu kleinen Brocken, bevor er es zum Brei verspeiste.
    Neidvoll starrte ich auf das Brot. »Gibt’s zum Frühstück«, tröstete unser neuer Nachbar.
    Um Zeit zu gewinnen, beschloss ich, erst einmal einen Schluck Tee zu probieren. An dessen Geschmack war nichts auszusetzen, er schmeckte nämlich nach nichts.
    »Sie haben die Teebeutel vergessen«, flüsterte Mamu.
    »So trinken es die Chinesen«, bemerkte Herr Hamburger, der es sichtlich spaßig fand, uns zu beobachten. »Heißes Wasser löscht den Durst genauso gut wie alles andere. Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, unabgekochtes Wasser zu trinken! Gleich um die Ecke ist ein Stand, an dem man heißes Wasser kaufen kann. Am besten besorgen Sie sich diese hier!«
    Er wühlte von Neuem unter seiner Bettdecke und förderte eine Thermoskanne zutage.
    Ich konnte meinen Eltern ansehen, dass sie am liebsten den fadenscheinigen Vorhang um unser Bett zugezogen hätten, damit wir die ersten Stunden im Ward Road-Heim hinter uns bringen konnten, ohne dabei den halben Saal zu unterhalten. »Vielen Dank, Herr Hamburger«, murmelte Mamu. »Vielleicht können Sie uns ja morgen noch ein paar Tipps geben.«
    »Aber gern«, entgegnete Herr Hamburger erfreut. »Wenden Sie sich jederzeit an mich. Ich bin schon vier Monate hier, ich kenne mich aus.«
    Ich beugte mich mit angehaltenem Atem über meinen Napf. Ich konnte nur hoffen, dass meine Mutter nicht ernsthaft beabsichtigte, unsere Zukunft einem Mann anzuvertrauen, der es in vier Monaten noch nicht geschafft hatte, aus dem Heim herauszukommen!
    Zur Nachtwäsche standen wir wieder an, in einem ungeheizten

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