Nanking Road
ziehen!«
Selbst da kam die Wahrheit noch nicht bei mir an. Vermutlich war mein Kopf noch viel zu sehr mit Staunen beschäftigt, als sich schon fürs Kombinieren zuständig zu fühlen. Gebannt sah ich zu, wie wir unaufhaltsam die Brücke hinaufrollten und dabei Fußgänger und Rikschas überholten, deren Kulis sich mit der Steigung abmühten. Ich sah die Adern an ihren Armen und Hälsen hervortreten wie dicke Regenwürmer, ich sah ihre schmutzigen, vernarbten Beine und Füße. Ich sah, wie sie ihre Rikschas in der Mitte der Brücke, kurz bevor es wieder bergab ging, noch einmal abbremsten, um sich drei Mal bis zum Boden vor einer Statue zu verbeugen, die mit aufgepflanztem Bajonett mitten auf der Straße stand. Uniform, hochmütiges, strenges Gesicht – die chinesischen Götter hatte ich mir anders vorgestellt!
Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die Handbewegung, mit der die Statue die Leute weiterwinkte. Es war kein Gott, es war einer der Japaner, die mit China im Krieg lagen und einen Teil der Stadt besetzten.
Was das bedeutete, wurde mir augenblicklich klar. Wir rollten über die Brücke und kamen in ein anderes Land. Nur wenige hundert Meter von den prachtvollen Geschäften, den luxuriösen Hotels und Vertretungen aller Länder der Erde taten sich Ruinen, Armut und Elend vor uns auf, oder besser: vor, hinter, neben und unter uns, denn wir rollten mitten hinein und das Elend schloss sich hinter uns wie ein Tor. Es war, als würden wir davon verschluckt.
Stille lag über unseren Wagen, ich hätte nicht sagen können, was gespenstischer war: der grausame Anblick, der sich uns bot, oder nicht doch wir selbst – sprachlos auf offenen Ladeflächen mit unseren wenigen Habseligkeiten, Flüchtlinge mit Koffern und ohne Bleibe und doch in unvergleichlich besserer Verfassung als alle, die hier lebten.
Inmitten ihrer zertrümmerten Häuser saßen, lagen, standen und hausten zerlumpte, zum Skelett abgemagerte Menschen. Bettler hockten zwischen Passanten und Garküchen am Straßenrand, zusammengesunkene Häuflein Lumpen, aus denen sich eine Hand ausstreckte, dürr wie ein Ast. Selbst die, die sich schneller bewegten, die aßen oder lebhaft palaverten, sahen krank und eingefallen aus. Über und über schmutzige Kinder bedrängten Fußgänger und wurden weggeschlagen, als wären sie Fliegen. Ein Gestank hing über der Straße, festgeklopft wie eine Mauer: ein Gestank nach Urin, Kot und Unrat, nach totem Fleisch.
Die Damen auf unserem Lastwagen hielten sich kreidebleich die Nase zu oder pressten Taschentücher und Schals vors Gesicht; einige schlossen sogar die Augen, als könnten sie dadurch verhindern, dass man uns in dieser Nachbarschaft ablud. Davon ungerührt bogen die Lastwagen in eine Seitenstraße ein, die allenfalls etwas ruhiger und breiter, etwas sauberer und etwas weniger zerstört war als die, die wir soeben verlassen hatten, und hielten vor einem roten Backsteingebäude.
Es war noch immer mucksmäuschenstill, niemand auf dem Wagen bewegte sich. Erst als unsere Fahrer die hölzernen Stiegen an die Ladeluke gerückt hatten und auffordernde Handbewegungen machten, schickten sich die Ersten an, zögernd abzusteigen.
Man hätte meinen können, die Ankunft dreier Wagenladungen schockierter Mitteleuropäer errege Aufsehen unter den Chinesen auf der Straße, aber das Gegenteil war der Fall. Die meisten beachteten uns gar nicht. Der Anblick von Flüchtlingen war für sie nicht so neu wie für uns. In einem Laubengang hinter dem Eingang des Backsteinhauses, das offenbar unser Ziel war, standen bereits zahlreiche weitere Ankömmlinge mit Koffern an; sie kamen, wie sich herausstellte, von dem italienischen Schiff, das kurz vor der Scharnhorst angelegt hatte.
Und die Passagiere der Conte Rosso wussten bereits mehr als wir: dass es irgendwo im Gebäude für jeden ein Bett in einem Schlafsaal und etwas zu essen geben sollte. Dass die, die schon da waren, nur noch etwas zusammenrücken mussten, um Platz für uns zu schaffen.
Das konnte dauern. In der Zwischenzeit bekamen wir schon einmal unsere Ausrüstung in die Hand gedrückt: eine Blechschüssel, einen Löffel, eine Decke und ein Laken.
»Es ist ja nur für ein paar Tage«, flüsterte Mamu, durchaus weißer als ihr Betttuch.
Frau Konitzer nahm Mamu bei der Hand. Mischas Mutter sah aus, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen. In dem dringenden Versuch, jemanden zu finden, dem es noch schlechter ging als Mamu, kam ich zu dem Schluss, dass diese
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