Nanking Road
Ankunft für die ehemaligen Passagiere der ersten Klasse doppelt so schlimm sein musste. Mindestens! Wir aus der Touristenklasse wussten immerhin schon, wie man sich auf engem Raum bewegte.
Langsam rückte die Schlange voran. Wer einen Schritt vorwärts gehen durfte, schleppte sein ganzes Gepäck dieses kleine Stück mit und türmte es von Neuem sorgfältig neben sich auf. Auch damit ging es uns besser als Konitzers, die sich mit ihren vielen Koffern und Kisten abmühten. Unsere Warteschlange zog sich vom Laubengang im Innenhof, wo man sich zwischen kreuz und quer hängende Wäschestücke ducken musste, über die gesamte Straßenlänge des Hauses. Wenige Meter neben uns verlief ein übel riechender Graben, an den ich nicht näher herantreten musste, um zu erkennen, dass es sich um eine »Pissrinne« handelte.
Mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu den Chinesen standen wir an der Außenmauer aufgereiht und warfen ihnen verstohlene Blicke zu. Wenn die meisten uns auch ignorierten, so kam von ihnen doch ein stetes, rhythmisches Klappern aus Hunderten von Holzpantinen, das sich mit dem Quietschen rostiger Fahrrad-, Schubkarren- und Rikscharäder mischte und die Straße mit ihrer Gegenwart ausfüllte. Die chinesischen Frauen trugen lange Röcke und dicke bunte Jacken, um die Männer flatterten fast bodenlange dunkle Kutten, die an der Seite zugeknöpft waren. Viele trugen Hüte, die einer flachen Schüssel glichen, nur auf den Köpfen der Rikschakulis saßen zerfetzte Kegel aus Stroh und ließen sie aussehen wie verarmte Zauberer.
Ich lauschte auf den fremdartigen Klang der Straße. Alles war in Bewegung und strebte irgendwohin, nur wir standen und boten mit unseren Pelzmanteldamen und ausladenden Gepäckstücken in dieser Kulisse möglicherweise einen seltsameren Anblick als die Ureinwohner. Hatte man sie gefragt, bevor man uns in ihr Land ließ? Vermutlich nicht, aber auch andere schienen nichts mit uns zu tun haben zu wollen. Ab und zu kam ein schon ansässiger Bewohner aus dem Backsteinhaus und warf uns im Vorbeigehen einen vorwurfsvollen Blick zu, als wollte er sagen: Seht ihr nicht, wie voll es hier schon ist?
Bis Konitzers und wir endlich an die Reihe kamen, vergingen Stunden und jeder, der eingelassen wurde, war so erleichtert, von der Straße zu kommen, dass keine einzige Stimme in unserer Schlange sich zur Klage erhob. Jemand ging uns voran zu dem uns zugewiesenen Schlafsaal, die Plätze mussten wir selber suchen.
Man erkannte die freien Betten daran, dass niemand darauf saß. Von allen anderen blickten uns Gesichter entgegen, die mir gänzlich stumm erschienen, obwohl ein vielstimmiges Murmeln den Raum erfüllte. Dutzende Etagenbetten standen in drei Reihen dicht nebeneinander. Manche waren mit Decken verhüllt, um den Bewohnern etwas Privatleben zu verschaffen. Zwischen den Betten und an jedem freien Fleckchen Wand hing Wäsche.
Die freien Plätze waren klar zu erkennen, trotzdem vergewisserte sich Mamu am Nachbarbett, bevor sie unsere Unterkunft belegte: »Entschuldigung – schläft hier schon jemand?«
»Nö, das ist Ihres, wenn Sie schnell sind«, kam die Antwort, worauf Papa rasch einen unserer Koffer auf das obere Bett wuchtete.
Wir setzten uns nebeneinander in die untere Etage; plötzlich hatte ich das Gefühl, keinen Augenblick länger stehen zu können. Zehn Meter weiter waren Konitzers bereits damit beschäftigt, zusätzliche Betttücher aus dem Koffer zu nehmen und ihr Etagenbett so geschickt zu umzäunen, dass man den Vorhang auf und zuziehen konnte. Ich sah ihnen zu, als hätte ich eine Eintrittskarte für einen Film gelöst. Die Koffer schoben sie vor dem Bett zu einem Tisch zusammen und legten eine Decke darauf, während Herr Konitzer bereits angeregt mit den Nachbarn plauderte.
Man konnte über Mischa und seine Eltern denken, was man wollte: Diese Familie machte aus jeder Situation das Beste. Bis wir uns endlich aufraffen konnten, ihrem Beispiel zu folgen und uns einzurichten, hatte sich der Schlafplatz der Konitzers in ein gemütliches Zelt aus gepunktetem Bettzeug verwandelt. Obendrauf saß Mischa, wippte probehalber auf der Matratze und ließ sich von seinem Vater einen kleinen Stapel Bücher hinaufreichen, den er am Fußende aufbaute, als wollte er eine Leihbücherei eröffnen. Tatsächlich kamen sofort zwei, drei Leute, um sich zu erkundigen, was er mitgebracht hatte.
Als auch wir fertig waren, vor unserem bezogenen Etagenbett standen und es nichts, aber auch gar nichts mehr
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