Nanking Road
Mal in meinem Leben sah ich erwachsene Menschen eine erzwungene Verbeugung machen. Im November war es mein Vater gewesen, den der Wolf dazu gebracht hatte, bevor er ihn zusammenschlug, und genau wie damals stand plötzlich die Ahnung einer tödlichen Gefahr vor mir.
Gelangweilt schaute der Japaner über die Köpfe der Leute hinweg und ließ sie passieren, nur einem Mann stieß er unvermittelt sein Bajonett vor die Brust und bellte ihn an. Ich konnte nicht erkennen, was an diesem Mann anders war als an denen, die über die Brücke durften, aber gesenkten Kopfes zog sich der Abgewiesene unter weiteren Verbeugungen in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
»Komm bloß weiter, Franz«, flüsterte Mamu und zog Papa, der stehen geblieben war, am Arm.
»In ihrem eigenen Land!«, sagte Papa tonlos. »Seht euch das nur an. Den armen Menschen geht es wie uns!«
»Sei still oder willst du ihn auch noch auf dich aufmerksam machen?«, zischte Mamu und scheuchte uns energisch vor sich her.
Trotzdem konnte ich nicht anders, als mich noch einmal umzudrehen. Nicht weil ich das Bedürfnis hatte, die demütigende Situation weiter mit anzusehen, sondern weil ich ganz plötzlich verstand, warum mein Vater viel zu lange gezögert hatte, Deutschland zu verlassen.
Deutschland war unser Land . So einfach war das. Wir waren in Berlin geboren, wir hatten dorthin gehört, und genauso wenig, wie die Japaner das Recht hatten, Chinesen von ihrer eigenen Brücke zu weisen, hatte irgendjemand das Recht gehabt, uns aus Deutschland hinauszuwerfen.
Wie um mich daran zu erinnern, wer dieser Jemand gewesen war, wartete nur wenige Schritte hinter der Brücke die Hakenkreuzfahne auf uns. Kein Wind wehte, schlaff hing sie an ihrer Stange vor dem deutschen Generalkonsulat, ich erkannte sogar ein wenig Taubendreck. Es war dieselbe bekannte, verhasste Fahne, und doch fand ich sie schon etwas weniger furchteinflößend als in Berlin.
Meine Eltern beschlossen, erst einmal Geld tauschen zu gehen – falls wir eine Meldegebühr entrichten mussten, gaben sie vor, aber in Wirklichkeit wollten sie wohl nur unser Betreten des Konsulats ein wenig hinauszögern. Immerhin handelte es sich um ein Stück deutschen Bodens.
Das schmutzige, zerfledderte Geld – ein ganzes Bündel, wie sich herausstellte, denn für einen US -Dollar erhielt man sechs bunte chinesische Scheine – ging als »das jüdische Startkapital« in unsere Familiengeschichte ein. Meine Eltern teilten es noch in der Lobby der Bank unter uns Dreien auf, um es den Taschendieben, die wahrscheinlich schon draußen lauerten, etwas schwerer zu machen. Mamu berührte das Geld so behutsam, als befürchtete sie, auch dieser unerwartete Besitz könne jeden Augenblick in seine Bestandteile zerfallen – gemessen am Zustand der Scheine, schien dies durchaus vorstellbar. Sie hingen mir schwer über den Fingern, wie ein schlaffer feuchter Lappen, und obwohl mir die Januarkälte unter den Mantel kroch, streckte ich im Gehen auf der Straße die Arme etwas von mir ab, um die arg ramponierten Scheine in meinen Seitentaschen nicht etwa durch eine unbedachte Bewegung zu zerreißen.
Am Konsulat angekommen, atmete Papa tief durch und meinte: »Am besten, ich gehe allein.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage!«, erwiderte Mamu und instinktiv nahmen wir Papa in unsere Mitte, damit niemand auf den Gedanken kam, wir ließen ihn uns noch einmal abnehmen.
Drinnen empfingen uns weiche Teppiche, Marmor und Kristall, die Alpen in Öl und so viele Fahnen des Deutschen Reichs, als wären sie hier zu verkaufen. Eingerahmt hinter dem Tisch der Rezeptionistin das missmutige Gesicht des Fü: Ihr schon wieder!
»Mangold, Berlin«, sagte Papa mit fester Stimme. »Wir sind gekommen, um uns anzumelden.«
Er legte unsere drei Ausweise auf den Tisch und die Mitarbeiterin blätterte den obersten Pass kurz auf. »Bitte warten Sie«, sagte sie danach nicht unfreundlich, nahm unsere Pässe an sich und verschwand damit in einem Nebenraum.
Wir sahen uns um. In der Halle standen Stühle, aber die Frau hatte nichts von Setzen gesagt, also blieben wir, wo wir waren. Nach kurzer Zeit ging die Tür wieder auf, eine andere Frau kam und nahm dort Platz, wo eben die andere Rezeptionistin gesessen hatte.
Meine Eltern tauschten besorgte Blicke. Irgendwo in diesem Haus waren gerade unsere Pässe unterwegs und ich konnte Mamu ansehen, dass ihr Herrn Konitzers deutliche Worte beim Frühstück wieder einfielen: »Ich melde mich auf keinen
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