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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ran.«
    Sie zogen ab, Frau Silbermann fröstelnd eingehüllt in ihren flauschigen silbernen Pelz, der in dieser Umgebung wirkte, als ob sie ihn irgendwo geklaut haben musste.
    Papa schob die Brille auf die Nasenspitze, sobald er aus dem Waschraum zurückgekehrt war, nahm Mamus kleine Schneiderschere und trennte vorsichtig einen Ärmelsaum auf. Er fand das Nähen äußerst entspannend, wenn er abends vom Bau kam.
    »Was ist denn nun mit unserem neuen Haus?«, fragte ich, während ich zusah, wie er einen sauberen Stich neben den anderen setzte.
    »Die unteren beiden Wohnungen sind fertig«, erwiderte mein Vater, auf sein Werk konzentriert. »Das Erdgeschoss für den Hausbesitzer Herrn Hu, der erste Stock für Fränkels.«
    »Wir sollen unters Dach«, erinnerte ich mich, »das heißt, wir kommen als Letzte dran.«
    »So ist es«, bestätigte Papa. »Aber wir sind ja auch als Letzte auf die Baustelle gekommen.«
    Er biss den Faden ab und fragte beiläufig: »Und? Warst du heute auf der Post?«
    »Klar«, antwortete ich etwas vorwurfsvoll.
    Glaubte er wirklich, ich hätte nicht daran gedacht? Jeden Nachmittag kontrollierten Mischa und ich auf dem Rückweg von der Schule unsere Postfächer, eine verantwortungsvolle Aufgabe, mit der unsere Familien uns betraut hatten, und ich war überaus stolz auf den Schlüssel, der an einem Bindfaden um meinen Hals hing.
    Aber leider wieder nichts. Da Papa nicht nachfragte, wusste ich, dass er verstanden hatte. In den fünf Wochen seit unserer Ankunft war noch keine einzige Nachricht von zu Hause gekommen, obwohl Mamu alle zwei Tage einen Brief an Tante Ruth schickte, dem ich wiederum eine Seite an Bekka beilegen durfte. Liebichs wohnten ja gleich um die Ecke von meinen Verwandten.
    Auch Konitzers warteten vergeblich auf Post, was immerhin Anlass zu der Hoffnung gab, dass die Unseren nicht etwa deshalb schwiegen, weil ihnen etwas zugestoßen war. Wenn selbst Konitzers keine Post bekamen, dann konnte es nur höhere Gewalt sein, dann hingen die Postsäcke wahrscheinlich irgendwo fest und wir würden einen ganzen Schwung Briefe auf einmal erhalten.
    In den nächsten Tagen hoffentlich. Lange konnte es bestimmt nicht mehr dauern. Ob Bekka mir schon aus England schreiben würde?
    »Ich hatte seit Monaten keine Post«, meldete sich Herr Hamburger vom Nebenbett.
    »Sie schreiben ja auch selber nie!«, wies ich ihn zurecht.
    Herr Hamburger zog geräuschvoll die Nase hoch. »Wenn ich nicht schreibe, dann nur deswegen, weil mir niemand antwortet. So einfach ist das.«
    Ich verkniff mir die Bemerkung, dass, wenn jeder nur auf den ersten Schritt der anderen warten würde, die ganze Welt voll herumstehender Leute wäre. Als hätte ich es gesagt, fügte Herr Hamburger beleidigt hinzu: »Ganz schön vorlaut, die Kleine.«
    »Wo soll sie vorlaut sein, wenn nicht auf ihrem eigenen Bett?«, erwiderte Papa, ohne den Blick von seinem Hemdsärmel zu heben.
    Das war ein weiterer Unterschied zwischen meinen Eltern: Während Mamu sich an ein Leben unter fortwährender Einmischung der Bettnachbarn nicht gewöhnen konnte, konnte Papa ohne Weiteres so tun, als redete er mit sich selbst, wenn er Antwort gab. Als Herr Hamburger nachsetzte und mit Nachdruck erklärte, er zumindest hielte es für unmöglich, unter Chinesen zu leben, die allesamt laut, schmutzig und verschlagen seien, meinte mein Vater nur, das Miteinander verschiedener Kulturen in einem Haus oder Schlafsaal sei nach seinem Erfahrungsstand schwierig, aber nicht unlebbar.
    »Wir sprechen uns in ein paar Wochen«, meinte Herr Hamburger.
    Meine Mutter kam in den Schlafsaal zurück, den Geruch billiger chinesischer Zigaretten hinter sich herziehend, eine nicht näher bezeichnete Mischung, die man in Hongkou für ein paar Cent kaufen konnte. Sie hatte sich das Rauchen in der Schneiderstube angewöhnt, wo es angeblich alle taten, und behauptete, sie könne jederzeit wieder aufhören, wenn sie nur wollte.
    Mamu machte einen wesentlich vergnügteren Eindruck, als sie sich vorbeugte, das Hemd inspizierte, Papa einen Kuss gab und sich zu uns aufs Bett setzte. »Happy End«, sagte sie zu Herrn Hamburger, bevor sie den Vorhang zuzog.
    Ich stellte mir vor, wie er enttäuscht auf unsere drei Paar Füße guckte, das Einzige, was von uns noch hervorschaute. »Ich glaube, das heißt Happy Ending«, bemerkte ich.
    »Sieh mal einer an«, meinte Mamu. »Konitzers Investition beginnt sich auszuzahlen.«
    Wir Juden brauchten uns in Shanghai nicht mehr zu verstecken, und eine

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