Nanking Road
unzähliger Rikschareifen, die nie geölt wurden, weil die Kulis glaubten, dass der Krach böse Geister vertrieb.
Aber wie langweilig war es auf dem Kudamm im Vergleich zur Nanking Road!
Im bunten internationalen Settlement tauchten auch die Chinesen unter, sicher und geschützt vor den neuen Herren ihres Landes. Chinesische Bedienstete trugen ihrer Herrschaft Päckchen und Tüten hinterher, aber man erlebte auch reiche Einheimische, die noch schöner und vornehmer waren als die Europäer. Die zarten, eleganten Chinesinnen hatten mit den ausgemergelten Gestalten in Hongkou weniger gemein als ich, ein Flüchtling vom anderen Ende der Welt, und ich weiß, es war hier, dass ich zum ersten Mal fühlte, dass ich mit dem Wort Volk nichts mehr anfangen konnte.
Kurz vor der Garden Bridge stieg die Schülerschar aus der Straßenbahn oder dem Bus und wir strömten zu Fuß hinüber, erst am britischen Posten vorbei, dann – genau dreißig Meter weiter – an den Japanern, die den Zugang von und nach Hongkou kontrollierten. Erst hinter dem Suzhou Creek trennten sich unsere Wege. Zwar kamen immer mehr Schüler der Shanghai Jewish School aus Hongkou, aber nicht alle lebten noch im Heim.
Mir schwante, dass Herr Konitzer – Onkel Victor – Mischa aufgetragen hatte, ein Auge auf mich zu haben, aber anstatt dankbar zu sein, machten mich die sehnsüchtigen Blicke, die er den anderen zuwarf, ein bisschen wütend und ich wäre beinahe lieber allein gegangen, obwohl ich mich noch immer vor dem japanischen Posten fürchtete. Sobald wir am Postenhäuschen der freundlichen britischen Soldaten vorbei waren und auf die Japaner zugingen, begann mein Herz zu klopfen. Die kalten, mürrischen Gesichter der Besatzer bedrückten mich, selbst wenn ihre Verachtung nicht uns Juden galt.
Heimlich war ich auch froh, dass Mischa und ich noch gemeinsam Straßenbahn fuhren. Dabei hatte selbst er am ersten Tag nicht den Mut gehabt, sich zu setzen, obwohl Platz genug gewesen wäre – erst hinter der Pferderennbahn begann sich die Bahn bis auf den letzten Kubikmeter Atemluft mit Menschen zu füllen. Doch dass Juden in öffentlichen Verkehrsmitteln stehen zu bleiben hatten, gehörte zu den Dingen, die mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass mir fast das Herz durch den Hals sprang, als Mischa am zweiten Nachmittag beim Anblick der nahenden Bahn flüsterte: »Heute setze ich mich!«
Denn es war ja nicht so, dass ich nicht selbst schon mit dem Gedanken gespielt hätte. Es war mir nicht entgangen, dass Mischa und ich tags zuvor die Einzigen gewesen waren, die während der ganzen Strecke draußen auf der Plattform stehen geblieben waren. Alle anderen jüdischen Schüler hatten wie selbstverständlich zwischen Einheimischen gesessen, die den Großteil der Passagiere der dritten Klasse stellten, und sich anscheinend nicht einmal mehr bewusst gemacht, was sie da taten.
Wenn man sich erst einmal überwunden hatte, war überhaupt nichts dabei. Das Herzklopfen, das Gefühl eines großen Triumphs verschwand nach wenigen Tagen, und um Straßenbahn zu fahren, brauchte ich Mischa eigentlich auch nicht mehr. Aber er fuhr und trabte weiterhin getreulich neben mir her; vielleicht wartete er, dass ich ihn von selbst aufforderte, mich allein zu lassen.
Einmal noch, dachte ich. Morgen vielleicht! Aber ich schob es immer wieder auf.
Am Tag, an dem ich nicht einmal beim Mittagstisch mehr Deutsch hatte sprechen dürfen, war ich zum ersten Mal dankbar für Mischas Begleitung. Ich war nicht im Geringsten vorbereitet auf seine großen Neuigkeiten.
»Na, den Weg kennst du ja jetzt«, sagte er plötzlich.
Mein Herz sank. Ich fühlte es irgendwo überm Knie.
»Mama, Paps und ich ziehen aus«, ergänzte Mischa.
Als ob ich nicht bereits darauf gewartet hatte! Ich wusste, wie intensiv Konitzers nach einer Wohnung suchten; dass sie bisher keine gefunden hatten, hing lediglich damit zusammen, dass sie bereits mehrere Angebote als ungeeignet ausgeschlagen hatten. Schließlich brauchten sie auch noch ein Zimmer für ihre Zahnarztpraxis.
Als ich beharrlich schwieg, fügte Mischa hinzu: »Noch heute. Wenn wir zurückkommen, haben sie schon gepackt.«
Bevor er auf den Gedanken kommen konnte, mich als Nächstes einzuladen: »Aber natürlich darfst du uns jederzeit besuchen!«, sagte ich patzig: »Und wieso läufst du nicht gleich zu eurer tollen neuen Wohnung?«
»Wegen dir«, erwiderte Mischa kühl.
»Ach, ich darf sie wohl nicht sehen?«, schoss ich zurück,
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