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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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große Schar selbstbewusster Jungen und Mädchen in Schuluniform ging am nächsten Morgen hoch erhobenen Hauptes zurück über die Brücke, die japanischen Posten ignorierend. Ich beeilte mich, hinter ihnen nicht zurückzufallen, ein komisches Gefühl ohne Mischa an meiner Seite. Die anderen Schüler ließen mich mitgehen, aber ich wusste nicht, wie ich einen von ihnen hätte ansprechen können. Zwar waren mehrere Mädchen meines Alters darunter, doch die Zahl ging gerade auf, alle gingen paarweise, einige sogar fest eingehakt, was mir deutlich zu verstehen gab, dass sie bereits befreundet waren.
    Noch nie hatte ich Bekka so schmerzlich vermisst. Wo in aller Welt war sie? Wer öffnete meine Briefe, wenn Bekka sie nicht mehr bekam? Unterhalb meiner Rippen entstand in letzter Zeit ein unangenehmes Kitzeln, wenn ich an meine Freundin dachte, und wie unter Zwang hatte ich mir angewöhnt, alles, was ich erlebte, in lustige oder tapfere Sätze für meinen nächsten Brief zu fassen. Die Sätze lernte ich auswendig, als könnte ich sie wieder verlieren, und sie blieben in meinem Kopf, noch lange nachdem ich die neue Seite abgeschickt hatte.
    Ein Kitzeln im Bauch und eine wachsende Zahl auswendig gelernter Sätze – das war ein zu dünnes Band, das reichte nicht, und als die Garden Bridge vor uns auftauchte und ich den mürrischen Japaner mit seinem Bajonett erblickte, kam ich zu dem Schluss, dass es das Beste war, mir keine neue Freundin zu suchen. Keine Freundin außer Bekka zu haben würde die stärkste Verbindung sein, die wir noch miteinander haben konnten.
    Mit einem gewissen Hochgefühl ging ich an dem Japaner vorbei, stieg in die Straßenbahn, suchte mir allein einen Platz und starrte entschlossen aus dem Fenster. In Wahrheit wusste ich die ganze Zeit, dass ich nicht durchhalten würde. Ich hätte einiges darum gegeben, wenn sich eins der Mädchen aus der Schule zu mir gesetzt hätte – und dies nicht erst, als sich eine Chinesin mit einem toten Huhn neben mich quetschte, dessen schlaffer Kopf fortwährend auf meinen Schoß rutschte.
    Wie gewohnt versammelten wir Schüler uns vor Beginn des Unterrichts auf dem Hof, hissten die Fahne und stimmten die Hatikva an. Überall Jungen und Mädchen in Weiß und Blau, die Rücken durchgedrückt, die Stimmen klar – ein Gefühl, als wäre ich in einen Geheimbund geraten.
    Kol od ba-lewaw penima
    Nefesch jehudi homija
    Ulfatej misrach kadima
    ajin le-zijon zofija …
    Einige Reihen weiter vorn entdeckte ich unter seinen Klassenkameraden Mischa, der sich an diesem ersten Morgen nach seinem Umzug ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit auffallend nach mir umschaute. Als mein Blick den seinen fing, begann er eifrig zu nicken, aber ich sah rasch weg, denn Judith hatte es auch bemerkt und schüttelte missbilligend den Kopf. Während der Hymne durfte an nichts anderes gedacht werden als an unser Gelobtes Land, hatte sie mir eingeschärft, und ich straffte schuldbewusst den Rücken und sang noch etwas lauter.
    Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, und im Lande Zion und in Jerusalem!
    Es war eine mitreißende Melodie, auch wenn sie nichts mit mir zu tun hatte. Palästina hatte in den Reiseplänen meiner Eltern nie eine Rolle gespielt, zumal dort, wie Mamu mir erklärt hatte, längst andere wohnten, die überhaupt nicht die Absicht hatten, die Juden ihr eigenes Land gründen zu lassen. An diesem Morgen jedoch war es mir zum ersten Mal ein Trost, mitsingen zu können.
    Auf dem Weg hinaus drängte sich Mischa zu mir vor. Ehe ich dazu kam zu fragen, was heute bloß in ihn gefahren war, sein Umzug sei schließlich überhaupt nichts Besonderes und er brauche nicht zu glauben, ich hätte ihn auf dem Weg zur Schule auch nur ansatzweise vermisst, griff er strahlend in seinen Ranzen.
    »Ich war heute früh schon da! Sechs Stück auf einmal, bestimmt habt ihr auch welche!«
    Mein Herz stand still, als er triumphierend mit seiner Post vor mir herumwedelte.
    Wer Post von zuhause bekommt, sollte früher gehen dürfen. Wer Post von zuhause bekommt, für den ist der Schultag sowieso verloren, der erinnert sich hinterher an nichts mehr außer die Zeiger der Uhr, die quälend langsam voranschreiten. Der bekommt kaum das Mittagessen herunter, der vergisst der Lehrerin am Ende des Tages Goodbye zu sagen, der

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