Nanking Road
neues Zuhause bereits dabei war, Mamu die Vorfreude auf unsere eigene künftige Wohnung zu verderben, noch bevor wir überhaupt dort eingezogen waren.
Onkel Victor öffnete die Balkontür, damit wir auf die Straße hinaussehen konnten. Der Balkon war ein Witz, nicht mehr als eine Balustrade, und ich hoffte, dass Mamu dies bemerkte, aber leider sah man über die Straße hinweg auf wunderschön verzierte Gründerzeithäuser, auf hohe Bäume, die im Sommer Schatten spenden würden, und einen kleinen Park gleich an der nächsten Ecke.
»Mit Bänken!«, betonte Mischa, denn auch das Sitzen auf Parkbänken war schließlich etwas Neues für uns.
»Und?«, fragte ich herausfordernd. »Hat Rainer dir schon die Gegend gezeigt?«
Für den Bruchteil einer Sekunde flog ein Schatten über Mischas Gesicht und er warf seinen Eltern einen raschen Seitenblick zu, bevor er errötend den Kopf schüttelte.
Ich war tief beschämt. Dass dieser Rainer seinen jüdischen Schachpartner von der Scharnhorst schnell vergessen haben würde, war mir von Anfang an klar gewesen – umso gemeiner, danach zu fragen! Was konnte Mischa dafür, dass seine Eltern reich waren, oder dass Mamu sich daran störte?
»Mischa hat längst neue Freunde auf der jüdischen Schule«, behauptete Tante Irma.
Er und ich vermieden es, einander anzusehen. Wenn wir irgendetwas noch nicht hatten, dann waren es neue Freunde!
Mamu, die noch nicht über den Ausblick vom Balkon hinweg war, aber etwas Nettes sagen wollte, bemerkte: »Man hört den Straßenverkehr fast gar nicht.«
»Leider«, versetzte Onkel Victor. »Ich wünschte, die Straße wäre stärker frequentiert, dann hätten wir mehr Laufkundschaft.«
Auf ihre Zahnarztpraxis, den größten Raum in der Wohnung, waren Konitzers besonders stolz – kein Wunder, wenn man sich erinnerte, mit welcher Mühe Tante Irma in jeder Hafenstadt auf unserer Reise die Ausstattung zusammengeklaubt hatte. Alles blitzte vor Sauberkeit. In der Mitte des Zimmers stand der Behandlungsstuhl, auf dem einladend ein weißes Handtuch lag.
»Der Stuhl ist der beste auf dem Markt«, hob Onkel Victor hervor. »Setz dich mal drauf, Ziska, damit ich es euch demonstrieren kann!«
Gehorsam kletterte ich auf den Stuhl, bereit, alles zu tun, um meine Mitfreude über Konitzers nicht abreißendes Glück zu beweisen. Onkel Victor betätigte einen Hebel, und in der nächsten Sekunde lag ich auch schon auf dem Rücken und beguckte seinen Bart von unten, wenngleich nur für Sekunden, bevor mir gleißendes Licht in die Augen schoss.
»Hier entgeht mir nichts«, prahlte Onkel Victor. »Mund auf, Ziska!«
Ich fand, das sei nun ein wenig übertrieben, aber hätte ich mich ausgerechnet Onkel Victor widersetzen sollen? »Aaah!«, machte ich bereitwillig und spürte etwas Kaltes, Glattes meine Zunge herunterdrücken, doch immerhin gewöhnten meine Augen sich an das Licht, ich konnte wieder etwas sehen und Onkel Victor dabei beobachten, wie er mit einem Ausdruck vollster Zufriedenheit, den ich von ihm gar nicht gewohnt war, in meinem Mund stocherte.
»Aaah!«, bemerkte auch er begeistert, als ob ich zum ersten Mal etwas Großes geleistet hätte, und ich begann mich ein wenig zu entspannen. Vielleicht machte ich gerade, ganz ohne eigenes Zutun, mein Schulgeld wieder gut! Eigentlich, dachte ich, während ich Onkel Victor mir zulächeln sah, mochte ich ihn ja doch ganz gerne, und ich erinnerte mich, wie wir uns angesehen hatten bei unserer allerersten Begegnung, als ich am Anhalter Bahnhof seinen Apfel aufgehoben hatte.
»Gib mir mal den Kleinen, Irma«, sagte Onkel Victor und ich wollte schon vom Stuhl herunterrutschen, weil ich annahm, nun käme Mischa an die Reihe. Aber eine feste Hand drückte mich zurück in die Rückenlehne und Onkel Victor brummte: »Keine Panik, es ist bloß ein klitzekleines Loch.«
Von Panik konnte überhaupt nicht die Rede sein. Selbst als der Bohrer über mir auftauchte, bildete ich mir noch ein, dies gehörte alles irgendwie zu seiner Demonstration. Erst als Mamu ausstieß: »Das kann ich nicht mit ansehen!«, und fluchtartig den Raum verließ, wurde mir klar, in welch böse Falle ich getappt war.
Mamu und Papa wurden nicht müde zu betonen, wie unschätzbar wertvoll es für uns war, mit einem Zahnarzt befreundet zu sein und kostenlos behandelt zu werden, aber tief in mir spürte ich, dass ich Onkel Victor, während Konitzers als erste Besucher unsere neue Wohnung betraten, noch längst nicht verziehen hatte.
Einen Karton
Weitere Kostenlose Bücher