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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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und ich musste plötzlich mit den Tränen kämpfen, so sehr schämte ich mich.
    Seitdem stellte sich Judith jeden Morgen neben mich, wenn der Schultag mit dem Hissen der weiß-blauen jüdischen Fahne begann, und ich hörte ihre helle, klare Stimme in den Gesang der Hatikva, der jüdischen Hymne einfallen. Jeden Tag erklärte sie mir ein neues wichtiges Detail aus dem jüdischen Leben, nahm mich mit in die Bibliothek, in der Männer mit Schläfenlocken die heiligen Schriften studierten, und in die Mikwe, ein rituelles Reinigungsbad nur für Frauen, in dem es herrlich warm war und duftete.
    Auf Zehenspitzen, mit angehaltenem Atem, ging ich neben ihr her. Die meisten Frauen in der Mikwe waren sehr schön. In Badetücher gehüllt, saßen sie herum, schwatzten und lachten. Der Kontrast zum Ward Road-Heim hätte nicht größer sein können, in dem meine Mutter von Tag zu Tag blasser, dünner und durchscheinender wurde, aber ich traute mich nicht, Judith zu fragen, ob Mamu hier ebenfalls zum Baden kommen durfte. Obwohl jede neue Erklärung über das jüdische Leben nur weitere Fragen in mir auslöste, war mir dennoch klar, dass es in der Mikwe um eine andere Art der Säuberung ging, und ebenso fremd, wie ich mich in dieser geheimnisvollen neuen Umgebung fühlte, stellte ich mir Mamu unter all den jüdischen Frauen in ihrer Badeanstalt vor. Womöglich ließ sie sogar peinliche Bemerkungen los! Ich behielt für mich, dass es in der Stadt ein Bad für jüdische Frauen gab.
    Mischa Konitzer fuhr jeden Nachmittag an meiner Seite zurück nach Hongkou. Die Shanghai Jewish School lag weit draußen hinter der Brücke im französischen Sektor und in kleinem Abstand folgten wir den Jungen und Mädchen, die dieselbe Richtung hatten wie wir: mit der Straßenbahn die vornehme Bubbling Well Road entlang, in der sich eine Villa an die nächste reihte, unterbrochen von Hotelanlagen, gusseisern umzäunten Gärten und Parks und den luxuriösen Clubs der Briten, Amerikaner und Franzosen. Hinter dem Oval der Pferderennbahn ging die »Bubblewell« in die Nanking Road über und die nächsten drei Kilometer fuhren wir ruckelnd und bimmelnd an einem Schaufenster nach dem anderen vorbei.
    Die Nanking Road im internationalen Sektor war die Haupteinkaufsstraße Shanghais. Zwei große Kaufhäuser standen nur noch als Ruinen da, aber die sechs übrigen Department Stores und die meisten anderen kleinen und größeren Läden waren während des japanischen Angriffs unversehrt geblieben und zogen Scharen von Kunden an. Im Gewimmel von Rikschas, Fahrrädern und Fußgängern kamen Autos und selbst die Straßenbahn kaum voran; vor den Eingangsportalen der Kaufhäuser sah man Limousinen mitsamt gelangweilt rauchenden Chauffeuren in der Reihe stehen und das Stück Straße mitunter vollends blockieren.
    Die Kaufhäuser – mit klangvollen chinesischen Namen wie Wing-On oder Sun-Sun – waren hochmodern, mit Rolltreppen und Aufzügen und Verkäufern, die zwischen Kleiderständern und Schmuckvitrinen hin und her huschten und fortwährend über irgendwelche Scheiben oder Tresen zu wischen schienen. Klimaanlagen kamen ihnen zu Hilfe und hielten den Dreck und Gestank der Straße fern; ich atmete unwillkürlich tief ein, wenn ich eins der Kaufhäuser betrat. Allerdings konnte ich nicht einfach so hineinspazieren, denn die Aufpasser waren darin geschult, zu erkennen, wer etwas kaufen wollte und wer nicht, und setzten mich gleich wieder an die Luft. Ich gewöhnte mir an zu warten, bis ich zusammen mit einem Schwall Kunden durch die Tür schlüpfen konnte, oder nutzte den Moment, wenn der Türsteher einer Kundin die Einkäufe zum Wagen trug.
    Menschen aller Herren Länder arbeiteten, lebten und kauften auf der Nanking Road ein, noch nie hatte ich so viele interessante Gesichter und ein solches Sprachgewirr erlebt. Es war, als hätte eine große Hand in jede Ecke der Welt gegriffen, eine Schar Bewohner eingesammelt und in Shanghai abgesetzt. Spazierte man zwischen ihnen die Straße entlang, konnte man nur noch staunen – staunen und sich fragen, warum Leute in anderen Ländern eigentlich alles daran setzten, unter sich zu bleiben. Gut, es stank, es war unfassbar laut: Das schwere Parfüm flanierender Damen mischte sich mit dem Qualm der offenen Kochstellen, Stimmen riefen und schrien durcheinander, aus den weit offenen Türen der Geschäfte schallten, verstärkt von Lautsprechern, gleichzeitig Dutzende Radiosendungen. Über allem lag das ohrenbetäubende Quietschen

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