Nanking Road
Schule.«
»Und Gummistiefel …?«
»Klar, wenn man das Geld hat!«
»Also dann … ab morgen in Strümpfen«, sagte ich tapfer.
Kurt nuschelte etwas. »Wie bitte?«, vergewisserte ich mich.
»Wenn du gegen halb acht am Heim vorbeikommst«, wiederholte er etwas unwirsch, »gehen wir alle zusammen. Wie früher sozusagen.«
Ich konnte Mischa anmerken, wie ausgeschlossen er sich mit einem Mal fühlen musste. Plötzlich tat er mir beinahe leid, weil er nun im schicken »Frenchtown« wohnen musste und nicht mehr wie wir anderen in Hongkou.
»Und wir«, sagte ich aufmunternd zu ihm, »treffen uns dann beim Mittagessen.«
»Mal sehen«, murmelte er etwas unwirsch.
Nachdem Kurt Platz genommen hatte, kamen noch zwei andere Jungen mit ihren Blechschüsseln zu uns an den Tisch. Sie hießen Paul und Erwin und stellten sich sogar vor. Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich kaum meinen Eintopf hindurchbekam, aber ich versuchte mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
Was war passiert – in nur vier Stunden? In meinen Augen gab es nur einen einzigen nachvollziehbaren Grund, warum die anderen offenbar beschlossen hatten, auf mich zuzugehen.
Judith kümmerte sich um mich. Mehr noch: Mitschüler gingen offenbar davon aus, dass die kluge, schöne, allseits respektierte und umschwärmte Judith für mich zuständig war! Ich konnte mir gut vorstellen, dass das reichte, um mir mit Achtung zu begegnen.
Ziska, ist das nicht die Neue, die unter dem Schutz von Judith steht?
Am nächsten Tag, während mein zweites Paar Strümpfe auf der Mädchentoilette trocknete, bemerkte Mischa: »Meine Eltern schlagen vor, dass du bei uns wohnst, sobald die richtige Regenzeit beginnt. Du bekämst dein eigenes Zimmer und hättest nur ein paar Minuten bis zur Schule. Überleg es dir.«
»Danke, aber da brauche ich nicht zu überlegen«, antwortete ich. »Ich hab doch jetzt auch wieder ein Zuhause.«
12
In den Augen der jüdischen Gemeinde mochte es zu viele Flüchtlinge geben, aber diejenigen von uns, die schon da waren, bekamen es nicht zu spüren. Weil die Aufträge für Papas Schneiderei auf sich warten ließen, blieb der kleine Schrank, der unsere Vorräte enthalten sollte, leer bis auf ein kostbares Brot, das für mehrere Frühstücke und Abendessen reichen musste, Tee, ein paar Zwiebeln, die auf dem Markt fast nichts kosteten, und einen Sack Reis. Um ihn kochen zu können, musste man zunächst sauberes Wasser im Wasserladen um die Ecke kaufen, das ein freundlicher alter Chinese aus einem riesigen bollernden Kessel direkt in unsere Thermoskanne schöpfte.
Eine Woche nach unserem Umzug wussten meine Eltern sich keinen anderen Rat, als darum zu bitten, vorübergehend noch am Mittagessen im Ward Road-Heim teilnehmen zu dürfen. Halb erleichtert, halb bestürzt entdeckten sie, wie viele von denen, die längst aus dem Heim ausgezogen waren, dort noch zum Essen anstanden. Suppe und Brei wurden noch wässriger, damit sie für alle reichten, aber niemand wurde fortgeschickt.
Mamu begann die ersten Dinge aus unserem Kleiderschrank zu versetzen. Das war normal, am Straßenrand in Hongkou standen zahlreiche Flüchtlinge, die Kleidungsstücke, Schmuck und Hausrat zu Geld machten. Aber die meisten waren deutlich länger in Shanghai als wir und Mamu sorgte sich, dass wir womöglich viel zu schnell anfingen zu verkaufen.
»Die einen verkaufen früher, die anderen später«, erwiderte Papa. »Unser Geschäft muss eben erst anlaufen.«
Aus dem Schrank verschwanden unsere jeweils dritten Pullover, Hosen und Röcke und ich war froh, dass die Transaktion erledigt war, bis ich aus der Schule kam. Die Armut um uns herum war selbstverständlicher geworden. Ich hatte mich an den stinkenden offenen Karren gewöhnt, der allmorgendlich den Inhalt unseres Toilettenkübels aufnahm; jenen zweiten Karren, der dem ersten in kurzem Abstand folgte und die in Decken eingewickelten, am Straßenrand abgelegten Toten der Nacht einsammelte, nahm ich zumindest hin. Mir war klar, dass die wenigsten in Hongkou sich leisten konnten, gut versorgt in einem Krankenhaus zu sterben.
Aber meine eigene Mutter am Straßenrand unseren Besitz feilbieten zu sehen … dafür nahm ich mir gern noch etwas Zeit.
Nach Papas erstem, sehnsüchtig erwarteten Auftrag kauften wir einer Köchin direkt vor unserem Haus Lauchpfannkuchen ab. Seit Tagen hatte uns der würzige Duft durchs Fenster verfolgt. Zwar waren wir ausdrücklich gewarnt worden, aus den Garküchen zu essen; ohnehin
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