Nanking Road
waren stehen geblieben und starrten, aber es war ein gleichgültiges, leeres Starren, nur ein Autofahrer hupte ungeduldig. Unter Fußtritten, Schlägen und Beschimpfungen kroch der Kuli herum und versuchte seine Rikscha aufzurichten. Endlich hatte er es geschafft und rettete sich und sein Gefährt humpelnd zurück nach Hongkou.
Augenblicklich begann der Strom der Fahrzeuge und Fußgänger wieder zu fließen, als wäre nichts geschehen. Der Japaner klopfte sich die Hände ab und fragte freundlich: »Everything all right, young Miss?«
Ich drehte mich um und rannte über die Brücke, so schnell ich konnte. Mein Schirm war sowieso weg, den musste jemand in der gleichen Sekunde gestohlen haben, als ich mit der Rikscha umkippte. Ich sah die betretenen Gesichter der anderen, als ich an ihnen vorbeihetzte.
»Ziska, jetzt warte doch mal!«, rief einer.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie sich meinen Namen gemerkt hatten.
Wie immer, wenn man die Garden Bridge überquerte, blieb alles, was hässlich und beschwerlich war in dieser Stadt, auf der anderen Seite des Flusses zurück. Armut und Zerstörung verschwanden wie hinter einem Vorhang und großzügige Boulevards taten sich auf. Gleich am Ufer, schräg gegenüber vom deutschen Konsulat, lag der kleine, aber hübsche Public Garden, auf dem Fluss schob sich ein Passagierdampfer, die italienische Conte Verde , majestätisch zwischen die dunklen Segel der Sampans.
Selbst der Regen hielt sich zurück auf dieser Seite der Stadt. Wahrscheinlich lag es nur daran, dass sich die Ausländer im Settlement eine bessere Kanalisation leisteten, aber nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass der für China zuständige Gott einen ziemlich schlechten Tag gehabt haben musste, als es darum ging, Not und Glück in dieser Stadt gerecht zu verteilen.
Gab es das überhaupt … gerechte Not? Wer bestimmte, auf welcher Seite der Brücke man ins Leben startete, ob man weiß oder schwarz, arisch oder jüdisch, als Japaner oder Chinese geboren wurde? Zog irgendjemand da oben ein Los? Alle deine Tage sind in mein Buch geschrieben – bedeutete das Versprechen der Bibel am Ende nur, dass auch der Himmel Listen führte?
Am unteren Ende der Nanking Road, ganz in der Nähe der Tramhaltestelle, gab es ein deutsches Reisebüro, vor dem keiner meiner Schulkameraden je stehen blieb. Die Bilder im Schaufenster gingen uns nichts mehr an, das erkannte ich an den entschieden abgewandten Blicken der anderen, und auch Mischa und ich hatten nie hingesehen, um nicht den Anschein zu erwecken, wir machten uns etwas daraus. Nur aus den Augenwinkeln hatte ich im Vorbeigehen erkannt, dass auch Bilder aus Berlin dort hingen.
An diesem Morgen, als ich vollkommen vergessen hatte, wohin ich unterwegs gewesen war, als mein Kopf voll war von Papa und dem Wolf, dem Japaner und dem Kuli, dem vollkommen identischen Geräusch von Schlägen und Tritten, kam ich nach längerem Umherlaufen plötzlich wieder bei diesem Fenster an. Erschöpft holte ich Luft, während ich die Bilder betrachtete. Olympiastadion, Brandenburger Tor, der neue Flughafen Tempelhof. Der Eingang zum Zoo, für den meine Eltern und ich eine Jahreskarte besessen hatten, als Juden noch hineindurften. Die Siegessäule mit dem Berliner Himmel darüber. Der Fü hatte sie eigens an eine neue Stelle bringen lassen, damit er mehr Platz für eine schöne Parade hatte.
Shanghai bedeutete Sicherheit, das hatte ich wieder und wieder gehört, und das glaubte ich inzwischen auch. Keine Verbote mehr für uns Juden, keine Angst vor Gebrüll und nächtlichen Besuchern – so würde es sein, zumindest für uns, dem christlichen und dem jüdischen Gott sei Dank! Doch an diesem Morgen ahnte ich zum ersten Mal, dass es vielleicht keinen Ort auf der Welt gab, an dem nicht irgendjemand geschlagen und getreten wurde. Dass das Beste, worauf wir hatten hoffen können, vielleicht bloß ein Ort gewesen war, an dem es andere traf als uns.
An einem solchen Ort waren wir gelandet. Glück gehabt, oder etwa nicht?
Everything all right, young Miss?
Die Tür des Reisebüros ging mit einem leisen Klingeln auf, das mich zusammenfahren ließ, und jemand sagte: »Wie lang willst du denn noch da stehen? Du bist ja schon nass wie ein Pudel.«
Der Berliner Akzent war unverkennbar. Ich starrte die Frau an. Sie war älter als meine Eltern, trug weißblondes langes Haar zu einem lockeren Dutt zusammengesteckt und eine kreisrunde Brille. Die Augen hinter den Brillengläsern musterten mich
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