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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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spöttisch und ein wenig herausfordernd.
    »Ich bin auch aus Berlin«, sagte ich, ehe ich es verhindern konnte.
    »Hab ich mir gedacht. Na, was ist, kommst du rein?«
    Genau so hatten die Probleme für Hänsel und Gretel angefangen. Während alle Sirenen im Kopf Alarm schrillen, folgten meine Füße der Frau über die Schwelle.
    Judith fand, die Jungen hätten es besser wissen müssen. Das Leben eines Einzelnen zählte nicht in China, besonders nicht das eines Kulis, der ganz tief unten stand, buchstäblich vor den Stufen der Gesellschaftsleiter. Niemals, hämmerte sie der geknickten kleinen Truppe ein, die auf dem Schulhof vor ihr den Kopf hängen ließ, niemals durfte einer von uns irgendetwas tun, das einen dieser Ärmsten der Armen in Schwierigkeiten brachte. Hatten wir in Deutschland etwa nicht gelernt, vorauszuschauen und Gefahren zu erkennen?
    »Sie war unglaublich wütend«, berichtete Mischa. Die Strafpredigt war Stunden her, aber ich konnte ihm ansehen, dass er noch einmal ganz von vorn beeindruckt war, während er mir davon erzählte.
    Ein Mädchen, das auf der Brücke dabei gewesen war, hatte sich in der Pause Judith anvertraut. Ihr gebeichtet, was auf dem Schulweg passiert war, und dass ich davongelaufen und auch in der zweiten Schulstunde noch nicht wieder aufgetaucht war. Dass doch niemand so etwas gewollt oder gar geahnt hatte!
    »Der Mann hätte totgetreten werden können!«, schimpfte Judith. »Totgetreten und in den Fluss geworfen! Niemand hätte mehr danach gefragt, seine Kinder wären verhungert und ihr wäret schuld.«
    Sie scherte sich nicht darum, dass sie deutsch sprach und im Umkreis von mehreren Metern über den Schulhof zu hören war. Die Jungen scharrten betreten mit den Füßen.
    »Wir Juden müssen es besser machen«, beschwor Judith sie. »Wir haben doch ein Ziel, oder etwa nicht? Wenn wir uns so verhalten, wie ihr es heute Morgen getan habt, dann … dann …«
    Ihr waren Tränen in die Augen geschossen, erzählte Mischa andächtig.
    »Dann kommen wir nie ins gelobte Land!«, flüsterte Judith.
    Ein Schauer rieselte mir über den Nacken. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Judith mit blitzenden Augen dagestanden hatte; es tat mir so leid, nicht dabei gewesen zu sein, dass ich um ein Haar vergaß, dass ich selbst der Grund für die ganze Aufregung gewesen war.
    Wir saßen beim Mittagessen und ich spürte die Blicke, die mir von anderen Tischen zuflogen. Ich fand es ziemlich tapfer von Mischa, sich zu mir zu setzen, während über mich geredet wurde; andererseits hatte ich das Gefühl, dass er mich gerade dadurch noch sichtbarer machte. Ich wünschte, er würde einfach aufstehen und mich in Ruhe lassen.
    Ziska, ist das nicht die Neue, die nicht mal richtig Jüdin ist?
    »Ein Dutzend Freiwillige haben sofort angeboten, dich zu suchen. Wo in aller Welt hast du bloß gesteckt?«, raunte Mischa.
    Ich rührte mit roten Ohren in meinem Napf. »Irgendwo in der Stadt.«
    »Ich zumindest«, meinte Mischa leichthin, »habe mir gleich gedacht, dass du zum Essen wieder auftauchst.«
    Damit schien er zufrieden und wollte sich wieder seiner Mahlzeit zuwenden, als ich plötzlich bemerkte, wie sein Gesichtsausdruck sich änderte und er überrascht und alarmiert im Blasen über seinen Löffel innehielt. Als ich mich vorsichtig umwandte, stand Kurt hinter mir – Kurt, der sich am Morgen frech neben mich in die Rikscha gedrängt hatte.
    »Wollte mich entschuldigen«, sagte er verlegen auf Deutsch. »Fred kommt auch noch, aber der steht gerade in der Ecke wegen einer anderen Sache.«
    Das heiße Rot meiner Ohren zog jäh nach vorn zur Nasenspitze, ich musste glühen wie ein Kupferkessel. »Macht mal Platz«, sagte Kurt zu meiner weiteren Überraschung und Mischa rückte ein kleines Stück, sodass Kurt sich zu uns an den Tisch setzen konnte.
    Schweigend löffelten wir unseren Eintopf. Ich erwartete, dass Mischa zu plaudern begann, aber ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schien ihm nichts einzufallen.
    »Hast du ein zweites Paar Strümpfe?«, fragte Kurt unvermittelt.
    Ich nickte, verblüfft und ein wenig misstrauisch. Ich besaß sogar drei Paar Strümpfe, aber ich hatte nicht die Absicht, Kurt eins davon abzugeben!
    »Ich nehme bei diesem Wetter ein Ersatzpaar mit«, sagte Kurt. »Ein Paar Strümpfe ziehst du auf dem Weg an und kannst es hinterher auswaschen. Wenn du nicht gerade in Scherben trittst, ist es auf jeden Fall besser als barfuß. Die trockenen Strümpfe wechselst du in der

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