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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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waren. Die Schule hatte sie feierlich und mit Segenswünschen verabschiedet. Lore reiste nach Schweden zu Onkel und Tante, Veronica und ihre Eltern wanderten nach Frankreich aus, ein Lehrer ging nach Palästina und nahm mehrere Jungen aus den oberen Klassen mit.
    Die Letzten, die gingen, gingen ohne Abschied, irgendwann blieb ihr Platz einfach leer. Schon lange vor dem November geschahen die meisten Fluchten nur noch heimlich und es war schwer zu beurteilen, ob sich Hausaufgaben noch lohnten. Einmal schrieb die Lehrerin sogar einen Beschwerdebrief an meine Eltern, weil ich eine Andeutung missverstanden hatte.
    »Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht, weil Sie uns Alles Gute statt Schönes Wochenende gewünscht haben, Frau Kepler!«, verteidigte ich mich. »Ich dachte, Sie sind nächste Woche weg, wie Herr Baum und Herr Kellermann.«
    »Herzlichen Glückwunsch, Ziska! Von allen Ausreden, die ich in dreißig Jahren als Lehrerin gehört habe, ist das eine der dreistesten. Heute bleibst du so lange hier, bis du dieses schöne Gedicht von Hölderlin auswendig gelernt hast!«
    Tatsächlich war Frau Kepler eine der Lehrerinnen gewesen, die bis zur Schließung der Schule mit uns ausgeharrt hatten, aber dass sie genauso hieß wie Frau Kepler in Shanghai, hatte nichts zu bedeuten. Die beiden hatten nichts gemein außer ihrem Namen. Frau Kepler in Berlin war klein, rund und mütterlich, Frau Kepler in Shanghai war hager und hatte eine raue Stimme. Die Berliner Frau Kepler war neugierig, sie hatte immer wissen wollen, wie es unseren Eltern und Geschwistern ging. Frau Kepler in Shanghai bot mir Tee und einen Schokoladenkeks an, ja, der Keks wartete schon auf mich, wenn ich ihr Reisebüro betrat, sie ging sofort ihre Dose holen und nahm ihn heraus. Aber weder erzählte sie mir von sich noch interessierte sie sich dafür, wer ich war. Wir wussten nichts voneinander außer unseren Namen und wo wir in Berlin gewohnt hatten: ich in Neukölln, sie in Schöneberg.
    In der Ecke neben dem Schaufenster stand unter einer Weltkarte ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen und dort saß ich, knabberte so langsam wie möglich meinen Keks und blätterte in bunten Katalogen. Erst hatte ich es nur aus Verlegenheit getan, weil diese zweite Frau Kepler nicht mit mir redete und ich mein Dasitzen irgendwie meinte rechtfertigen zu müssen; mit dem Keks in der Hand einfach wieder zu gehen, wäre mir unhöflich erschienen. Inzwischen hatte ich mich nicht nur daran gewöhnt, sondern war froh über ihr Schweigen.
    Frau Keplers Reisebüro bestand aus einem großen Schreibtisch, an dem sie selber saß und auf dessen anderer Seite ihre Kunden Platz nahmen. Hinter ihr standen Regale mit Prospekten, Katalogen und sorgfältig beschrifteten Ordnern, vor ihr stand ein Telefon. Schreibtisch, Kataloge, Telefon – mehr brauchte man nicht, um von diesem Raum in die ganze Welt zu reisen.
    Und die ganze Welt lag vor mir auf dem Tisch. Amerika brachte mich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Es gab Berge, Wüsten und Ozeane, Wälder bis zum Horizont und tiefblaue Seen, es gab Wolkenkratzer, ausgedehnte Farmen und hübsche kleine Holzhäuser, die mit Fahnen geschmückt waren. Cowboys trieben Viehherden über Land, Indianer rauchten Friedenspfeifen und die Nachfahren der ehemaligen Sklaven schienen allesamt Musik zu machen. In den Städten flanierten Leute, die wie Filmstars aussahen, vom Restaurant in den Nachtclub, vom Theater ins Kino.
    Willkommen in Amerika stand auf dem Katalog. Als ob es ganz einfach wäre. Amerika war eine Schatzkiste voller Versprechen; nach all den Jahren, in denen es eng und enger um mich geworden war, hätte ich mir nie vorstellen können, dass es auf der Welt so unglaublich viel Platz gab.
    Im Vergleich zu Amerika nahmen sich die Bilder aus Deutschland ziemlich piefig aus – man kam nicht umhin, es festzustellen. Und dennoch buchten die meisten Kunden nur langweilige Passagen »nach Hause«, um Verwandte zu besuchen. Sie machten sich offenbar überhaupt nichts daraus, dass ihnen – im Gegensatz zu uns mit dem »J« im Pass – die Welt offen stand.
    »Sehen wir zu, dass wir dieses Jahr noch mal nach Hause kommen, gelle, Frau Kepler? Wer weiß, wer weiß …«
    Eine prallgefutterte Matrone mit zu lauter Stimme war die erste deutsche Kundin, die den Laden betrat, während ich dort war, und reflexartig wäre ich am liebsten aus dem Fenster gesprungen, aber erstens waren auch hier Gitter davor, und zweitens beachtete die Frau mich

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