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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hatte Mamu sich angewöhnt, vor jedem unbekannten Schritt erst einmal das Informationsblatt zu Rate zu ziehen, das wir bei der Ankunft erhalten hatten und das Warnungen für alle Lebenslagen enthielt.
    Trinken Sie kein Wasser aus der Leitung und putzen Sie sich damit nicht die Zähne, wenn Sie keinen Typhus bekommen wollen.
    Trinken Sie keine Milch und essen Sie kein frisches Obst und Gemüse.
    Tragen Sie keine Wertsachen bei sich und trauen Sie niemals der chinesischen Polizei.
    Gehen Sie keinesfalls in die chinesische Altstadt hinter dem französischen Sektor.
    Und so fort, und so fort. Aber Fränkels aßen regelmäßig Speisen aus den Garküchen und waren noch nie krank geworden, also beschlossen meine Eltern, es zu wagen. Wir aßen die knusprigen Pfannkuchen an Ort und Stelle und direkt aus der Hand, und es war das Köstlichste, das wir seit Monaten, wenn nicht jemals zu uns genommen hatten. Mir wurde schwindelig vor Glück, Mamu schossen Tränen in die Augen.
    Herr Fränkel, der uns von seinem Balkon beobachtete, meinte gutmütig: »Sag ich doch, dass man das essen kann.«
    Seine Frau saß wieder auf der Treppe und weinte. Die englische Familie hatte Fotos von Jakob geschickt.
    »Er sieht zufrieden aus, oder nicht?«, vergewisserte sich Frau Fränkel schluchzend und hielt uns die Bilder hin.
    »Aber ja, er sieht ganz hinreißend und fröhlich aus!«, bestätigte Mamu sofort, was Frau Fränkel noch mehr zum Weinen brachte.
    Inzwischen hatte ich mir angewöhnt, mich vor jedem Verlassen des Hauses am Treppenabsatz zu vergewissern, ob Frau Fränkel im Weg saß. Wenn es ging, wartete ich, bis sie verschwunden war; ließ sich die Begegnung nicht vermeiden, hielt ich die Luft an – nicht nur weil ich hoffte, dass sie mich nicht ansprach, sondern weil sie allmählich anfing zu riechen. Ich nahm an, dass es an dem vielen Salzwasser lag, das sie aussonderte.
    Mit angehaltenem Atem betrachtete ich die Bilder, die Mamu mir weiterreichte: Jakob mit Teddybär auf dem Arm, am Tisch vor einer großen Portion Essen und beim Spielen in einem Garten. Das Gartenbild sah aus, als sei am Rand jemand abgeschnitten worden; wahrscheinlich wollte die englische Familie nicht so tun, als gehörte sie jetzt dazu.
    »Es ist eine gute Familie«, sagte Herr Fränkel. »Sie fragen, ob sie auch für uns etwas tun können. Aber ich weiß nicht … wo sie sich schon um Jakob kümmern, können wir doch nicht auch noch um Unterstützung bitten.«
    »Vielleicht helfen sie gern«, gab Mamu zu bedenken. »Ich an Ihrer Stelle würde aber nur auf das Angebot zurückgreifen, wenn es nicht anders geht.«
    »Ein guter Gedanke!«, meinte Herr Fränkel erfreut. »Nur wenn wir es wirklich brauchen … und für den Fall wäre es schön, das Angebot im Hintergrund zu wissen!«
    »So eine englische Familie könnten wir auch brauchen«, seufzte Mamu später. »Wer weiß … wenn Evchen und Betti nach England gehen …«
    Ich spitzte die Ohren. Mr Tatlers Liste war nie wieder ein Thema gewesen, seit die Namen meiner kleinen Cousinen sicher darauf gelandet waren; ich hatte schon den Verdacht gehabt, dass meine Eltern gar nicht mehr daran dachten.
    »Wozu brauchen wir eine englische Familie?«, erwiderte Papa. »Ab jetzt geht es aufwärts mit uns!«
    »Nur für den Notfall«, meinte Mamu. »Stellt euch bloß vor … jeden Tag Lauchpfannkuchen!«
    Meine Eltern lachten. Aber so schnell wollte ich das Thema England nicht aufgeben.
    »Wenn Evchen und Betti nach England gehen«, fing ich wieder an, »macht Tante Ruth dann auch so ein Theater wie Frau Fränkel?«
    Es kam anders heraus, als ich beabsichtigt hatte, ich erschrak selbst ein wenig über meine Worte. »Aber Ziska, wie kannst du nur so etwas Herzloses sagen!«, rief Mamu. »Es gibt für eine Mutter nichts Schlimmeres, als ihr Kind allein in die Fremde zu schicken!«
    »Ach, und warum sind Liebichs so froh, dass Thomas es geschafft hat?«
    »Weil er schon fünfzehn ist! Kannst du dir Evchen und Betti, diese kleinen Heulsusen, allein auf der Fahrt nach England vorstellen? Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich ihnen das überhaupt wünschen soll.«
    »Dann hättet ihr eben Bekka auf die Liste setzen sollen!«, entfuhr es mir. »Sie hätte es nämlich nicht nur selbst geschafft, sondern ganz bestimmt auch Plätze für die anderen gefunden!«
    Jetzt war es heraus. Ich hielt den Atem an. »Glaub nicht, dass das eine leichte Entscheidung war«, wies mich Papa sofort zurecht.
    »Du musst dich nicht rechtfertigen, Franz.

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