Nanking Road
Ziska weiß, dass wir zuerst an unsere eigene Familie denken müssen.«
»Aber jetzt so tun, als sollten die Kleinen gar nicht fahren …!«, rief ich außer mir, worauf Mamu augenblicklich einfiel, dass wir ja nun wieder ein zweites Zimmer besaßen, in das sie mich bei Ungezogenheit schicken konnte.
Unsere gute Laune war dahin. Ich verkroch mich auf meine Pritsche und starrte zur Decke, an der ein nasser Fleck von Tag zu Tag größer wurde. Papa und Herr Fränkel waren eben doch keine Dachdecker.
Nach einer Weile kam Papa herein und setzte sich zu mir aufs Bett. »Ich hätte Bekka gern auf die Liste gesetzt«, sagte er. »Das musst du mir glauben.«
»Ach, die blöde Liste! Man hört sowieso nichts mehr davon.« Ich drehte mich zur Wand. »Wahrscheinlich hat Mr Tatler sie überhaupt nicht abgeschickt.«
Auf einmal hatte ich größte Lust zu heulen – nicht nur weil ich es plötzlich schier nicht mehr aushielt, nichts von Bekka zu wissen, sondern weil ich mir selbst so leid tat. Kaum ging es einem für zehn Minuten gut, musste man sofort wieder ein schlechtes Gewissen haben wegen der anderen. Sie saßen einem im Nacken, sie waren immer da. Gerettet zu werden hatte ich mir jedenfalls schöner vorgestellt.
»Soll ich herausfinden, was aus der Liste geworden ist?«, fragte Papa. »Wir wissen, an welcher Schule Tatlers unterrichten. Vielleicht schreibe ich ihnen einen Brief, was meinst du?«
Ich setzte mich wieder auf.
»Wenn du willst«, sagte mein Vater nach kurzem Zögern, »schicken wir auch Bekkas Adresse mit. Es könnte doch sein, dass jemand anstelle eines Kleinkindes lieber ein älteres, schon englisch sprechendes Mädchen aufnehmen will. Bekka und die Kleinen sprechen sozusagen ganz unterschiedliche Interessengruppen an … aber Ziska, das ist doch kein Grund zu heulen!«
»Evchen und Betti müssen doch auch gerettet werden!«, schluchzte ich.
»Das werden sie – ganz bestimmt!«, versprach Papa und beschloss: »Wir machen es noch einmal. Wir machen es besser! Diesmal schreiben wir etwas zu jedem Kind. Was sie mögen, was sie gut können, wer ihre Eltern sind … da muss mehr stehen als nur ein paar Namen.«
»Evchen kann singen«, fiel mir zu meiner Überraschung ein; ich hätte nicht gedacht, dass mir von meinen Cousinen überhaupt etwas Positives in Erinnerung geblieben war. »Und Betti hilft freiwillig in der Küche. Dass sie dabei von allem frisst, muss man ja nicht erwähnen.«
»Nascht«, korrigierte mich Papa, aber ich sah ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen.
Ich wischte mir die Tränen ab. »Können wir gleich anfangen mit dem Brief?«
»Ja, warum nicht?«, meinte Papa und wir gingen zurück ins Wohnzimmer, um zur Tat zu schreiten. Mamu war nicht begeistert, das konnte ich ihr ansehen, aber sie ließ uns gewähren. Vielleicht glaubte sie sowieso nicht mehr an die Liste.
Mein Text dürfe nicht zu lang werden, mahnte Papa. Mit dem dritten Versuch, der die ursprünglich zwei Seiten in wenigen Sätzen zusammenfasste, war er einverstanden.
Rebekka ist elf Jahre alt und wird von allen nur Bekka genannt. Sie ist klug und mutig, aber nicht frech. Erwachsene unterhalten sich gern mit ihr. In der Schule war Bekka eine der besten und für viele eine Anführerin. Sie zeichnet sehr gut und spricht englisch. Bekka mag England und vor allem die Prinzessinnen, und mit ihr bekommt man bestimmt nie Probleme.
Glücklich sah ich zu, wie Papa übersetzte. Nachdem mein Text auf Englisch dastand, setzte ich meine Unterschrift darunter: Ziska Mangold, 11 years.
Zwei Tage später fand meine Mutter eine Anstellung als Spülkraft in der Kantine des General Hospital in Hongkou und jemand brachte einen ganzen Korb Kleidungsstücke, die ausgebessert werden mussten. Noch in derselben Woche kam Nachricht von Tante Ruth: Onkel Erik war Ende März aufgebrochen – unterwegs zu uns.
Plötzlich ging es fast zu schnell mit dem Glück. Ich konnte nur hoffen, dass noch genügend für Bekka, Tante Ruth und meine Cousinen übrig blieb.
Gemessen daran, wie viele Menschen wir in den letzten Jahren verloren hatten, wuchs unser Bekanntenkreis in Shanghai atemberaubend schnell. Ich kannte Konitzers, die fast schon Verwandtschaft waren – inklusive des leichten Überdrusses, wenn sie sich einmischten. Ich kannte Fränkels und Hus, Judith und Miss Schröder, auch immer mehr Klassenkameraden konnte ich beim Namen nennen – und sie mich.
In Berlin hatte ich nur Namen verloren. Ich erinnerte mich an die Ersten, die gegangen
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