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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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überhaupt nicht.
    »Wer weiß was?«, fragte Frau Kepler, während die Andeutung im Raum verklang.
    »Na, wie lange das Reisen noch sicher ist!«, antwortete die Matrone überrascht. »Bei der politischen Lage … nichts für ungut, Frau Kepler, aber haben Sie noch nicht darüber nachgedacht, dass es für Sie bald schwierig werden könnte?«
    »Ich kann mich ja auf Truppentransporte spezialisieren«, meinte Frau Kepler unbewegt und die andere Frau lachte laut.
    Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redeten, erst Monate später sollte ich wieder an die Matrone und ihre Befürchtungen denken. In diesem ersten Frühjahr in Shanghai interessierten mich nur die wenigen Kunden, die eine richtige Reise unternehmen wollten, und jedes Mal saß ich wie angewurzelt in meiner Ecke neben dem Fenster und lauschte.
    »Der Transamerika-Express bringt Sie ganz bequem von der Ost- an die Westküste. Natürlich können Sie Zwischenstopps auf der Strecke buchen, so viele Sie wollen. Und wenn Sie an einem Ort genug gesehen haben, ruhen Sie sich einfach ein paar Tage im Erste-Klasse-Abteil aus und lassen sich durch die Landschaft fahren, Ihrem nächsten Ziel entgegen …«
    Den Katalog auf den Knien, spürte ich den Boden unter mir beben, ich sah riesige Staubwolken und hörte das Brüllen und Stampfen der Rinderherden. Wettergegerbte Cowboys ritten am Fenster des Transamerika-Expresses vorbei und winkten mir mit ihren Hüten.
    »Ach, Ziska, du bist ja auch noch da!«, bemerkte Frau Kepler, wenn der Kunde gegangen war.
    Enttäuscht trat ich auf die Straße, ein Gefühl, als müsste ich mich wieder ganz von vorn an Draußen gewöhnen: die Kälte, den Gestank, den Lärm und das Gedränge, diese ganze merkwürdige, brutale Stadt, in der keinen Augenblick Stille war.
    Unausgesprochen erwartete Frau Kepler von mir, dass ich wieder ging, wenn ich meinen Keks gegessen hatte. Hätte sie ihn mir angeboten, hätte sie mich überhaupt in ihren Laden gelassen, wenn sie gewusst hätte, dass ich jüdisch war? An meiner Uniform aus ganz gewöhnlichem Faltenrock und Bluse war die dazugehörige Schule kaum zu erkennen, auch die Kunden schöpften ja keinen Verdacht. In meiner Ecke lauschend, kam ich mir so unsichtbar vor wie früher in Deutschland. War kein Kunde im Laden, hörte man nur das leise Blättern von Katalogseiten, mal von mir, mal von Frau Kepler.
    Sobald ich aufstand und die Kataloge, die ich angesehen hatte, ordentlich wieder zusammenschob, sagte sie: »Na dann bis zum nächsten Mal.«
    Ich hatte den Verdacht, dass sie meine Kekse selber buk; ganz sicher legte sie extra für mich Berliner Dialekt in ihre sparsamen Worte, obwohl sie mit ihren Kunden Hochdeutsch sprach. Unwillkommen, das spürte ich, war ich ihr nicht, aber sie schien auch froh, wenn ich nach einer Weile wieder ging.
    Ich erzählte niemandem von Frau Kepler – meinen Eltern nicht und schon gar nicht Judith oder Mischa. Onkel Victors Gesicht, wenn er erfuhr, dass ich in einem deutschen Reisebüro Kekse aß, konnte ich mir ausmalen, ohne es selbst erleben zu müssen! Von Kurt und den anderen verabschiedete ich mich in der Straßenbahn eine Station früher und gab vor, eine Bekannte meiner Eltern zu besuchen.
    »Sie lebt allein und ich darf mir manchmal ein Stück Kuchen abholen«, behauptete ich und vergewisserte mich nach dem Aussteigen, dass mir niemand folgte. Aber keiner machte sich die Mühe. So groß war das Interesse an mir auch wieder nicht.
    Das Deutsche Reisebüro in der Nanking Road, in dem mich niemand vermutete, war der einzige Ort in der Stadt, an dem ich ganz für mich war und für kurze Zeit meine Ruhe hatte.
    Judith war zufrieden mit mir.
    »Was ist der Unterschied zwischen Kiddusch und Kaddisch?«
    »Kiddusch ist die Segnung von Brot und Wein, Kaddisch ist das Gebet für die Toten.«
    »Was fällt dir zur Kaschrut ein?«
    »Kaschrut heißen die Speisegesetze.«
    »Ja, gut, aber was steht da drin?«
    »Wie man koschere Speisen zubereitet, und dass man Fleischliches und Milchiges wegen des Reinheitsgebotes immer trennen muss.«
    »Und was ist der Unterschied zwischen Mikwe und Mizwa? Achtung, ich helfe dir: Das ist der Satz, der sich reimt!«
    »Die Mikwe ist das rituelle Bad, die Mizwa ruft zur guten Tat«, sagte ich und fügte etwas beleidigt hinzu: »Dabei hättest du mir gar nicht helfen müssen!«
    Judith lächelte und legte mir den Arm um die Schulter. Mein Herz klirrte vor Freude, beinahe fürchtete ich, man könne es hören. Wenn ich Judith begegnete, geriet

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