Nanking Road
eigenen Laufs … und die Mitschülerinnen von damals waren vergessen, vergessen war die Furcht, die mein Leben lang zum Laufen dazugehört hatte. Vergessen war Richard Graditz, der Letzte, dem ich davongerannt war, vergessen war, dass es ein Ziel gab. Es hätte endlos weitergehen können, ich wollte nirgends mehr ankommen, ich hatte gar nicht gewusst, wie herrlich es war, zu rennen, ohne dass jemand hinter einem her war. Wie schön es war, mit einer Freundin zu laufen und nicht vor Angst.
Mein Mund öffnete sich und ein Schrei kam heraus, der ein bisschen wie Tarzan klang. Judith stolperte und drehte halb den Kopf, vielleicht vor Schreck, vielleicht um sich zu vergewissern, dass ich nicht etwa gestürzt war. Dadurch verlor sie einen Meter ihres Vorsprungs und ich hörte ein hohes, entrüstetes: »He …!«
Mittlerweile war ich Judith so nah, dass ich deutlich hören konnte, wie ihr die Luft ausging. Sie pfiff und japste und rackerte sich ab, fortwährend wandte sie sich nach mir um und tat mir ein bisschen leid, weil sie zu schnell begonnen und sich verausgabt hatte, lange bevor wir zum dritten Mal bei Mischa angelangt waren. Ich setzte an, an ihr vorbeizuziehen …
… als mich im letzten Augenblick der Verstand einholte. Ziska Jesse Mangold, was glaubst du eigentlich, was du hier gerade machst?
Judith, die mir täglich half, mich in der Schule zurechtzufinden! Judith, die eine richtige Jüdin aus mir machte, die von Anfang an freundlich und großzügig zu mir gewesen war. Judith, die drei Jahre älter und einen Kopf größer war als ich … wozu musste ich eigentlich gegen Judith gewinnen ? Ich wollte ihre Freundin werden, sonst nichts.
Ich drückte mir eine Hand in die Seite und drosselte meinen Lauf – nicht, dass ich zurückfiel, ich blieb dicht hinter ihr, ich wollte mich schließlich nicht blamieren, und als wir nach der dritten Runde bei Mischa ankamen, Judith einen halben Schritt vor mir, keuchten und husteten wir beide, was das Zeug hielt. Mit auf die Oberschenkel gestützten Händen blieb Judith stehen, beugte sich weit vor und schnappte nach Luft wie ein Karpfen. Ich tat es ihr nach, obwohl ich bestimmt noch eine halbe Runde geschafft hätte.
»Mann, Ziska, du kannst rennen …!«, stieß sie hervor, als sie wieder reden konnte.
»Vielleicht«, japste ich, »kannst du mir ein paar Tricks zeigen?«
»Damit du mich beim nächsten Mal schlägst?«, erwiderte sie lachend und streckte die Hand aus, um sich von Mischa ihren Mantel reichen zu lassen; sie ermahnte auch mich, sofort meine Jacke anzuziehen, damit ich mich nicht etwa erkältete. Meine Freude über ihre Fürsorge war grenzenlos.
»Wenn du Lust hast«, meinte sie auf dem Weg zum Ausgang, »können wir gern mal wieder zusammen laufen!«
»Ach Judith, das wäre fantastisch!«, rief ich.
Vom Eingang des Parks sahen Mischa und ich ihr nach, wie sie in die Peking Road einbog und unseren Blicken entschwand. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Mischa ihr genauso gern hinterhergeschlichen wäre wie ich, um zu sehen, wo sie wohnte.
»Du hast sie gewinnen lassen«, bemerkte er plötzlich. »Ich habe genau gemerkt, dass du absichtlich zurückgefallen bist.«
Ich antwortete nicht. Was spielte es für eine Rolle, dass Judith als Erste im Ziel gewesen war? Ich hatte gewonnen, das spürte ich deutlich.
In den Tagen nach unserem Wettlauf bildete ich mir ein, dass Judith sogar noch herzlicher mit mir umging als vorher. Und hatte sie nicht auch allen Grund, stolz auf mich zu sein? Ihre unermüdlichen Versuche, mich zu einer richtigen Jüdin zu machen, blieben von einer anderen wichtigen Instanz nämlich nicht unbemerkt: Onkel Victor war entzückt, er war regelrecht sprachlos, dass ich zu Pessach die Fragen singen konnte, die bei der Sederfeier dem jüngsten Kind am Tisch oblagen. Als er mich dazu aufforderte, hatte er bestimmt erwartet, dass ich verlegen schweigen und die Aufgabe an Mischa weiterreichen würde.
Warum ist dieser Abend anders als alle anderen? Warum essen wir an allen anderen Abenden gesäuertes Brot, heute aber ungesäuertes? Warum essen wir an allen anderen Abenden beliebige Kräuter, heute aber nur Bitterkräuter? Warum …
Obwohl Mischa sich übergangen fühlen musste, rechnete ich es ihm hoch an, dass er um meinetwillen ein wenig nervös wurde und erleichtert aufatmete, als ich die Fragen fehlerlos hinter mich gebracht hatte. Um meinen Gesang stand es nicht zum Besten, aber die hebräischen Worte waren tadellos.
»Respekt«,
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