Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
Weg.
    »Bist du besser im Sprint oder auf längeren Strecken?«, wollte sie wissen.
    »Auf längeren«, sagte ich nach kurzem Nachdenken.
    »Auch immer weggelaufen?«, fragte sie leise.
    Ich hob die Schultern und sah, wie hinter ihrem Lächeln plötzlich etwas zum Vorschein kam, das ich nicht kannte – eine Erinnerung vielleicht, ein kleines Grauen. Schon war es vorbei und sie beschloss: »Dann rennen wir drei Mal um den Park, schaffst du das?«
    »Na klar! Und die Start- ist auch die Ziellinie?«
    »Ach«, sagte Judith. »Bis wir zum dritten Mal wieder hier ankommen, ist sowieso längst klar, wer gewinnt. Nimm Ziskas Ranzen, Mischa.«
    Ich gab Mischa meinen Ranzen, der ihn sich gehorsam über die Schulter hängte, und trat mit klopfendem Herzen an den Start. Doch als ich mich zu Judith umdrehte, hatte sie angefangen zu federn, die Arme zu schwingen, sich zu dehnen und kleine Starts zu simulieren.
    »Willst du dich denn nicht aufwärmen?«, fragte sie, worauf auch ich ungeschickt ein wenig auf der Stelle zu hüpfen begann. Ich hatte keine Routine im Aufwärmen, ich war ja fast nie dazu gekommen. Ich war einfach immer so schnell wie möglich losgerannt.
    Nach einer Weile zog Judith ihren Mantel aus und reichte ihn Mischa und ich folgte ihrem Beispiel.
    »Also, ich wäre dann soweit«, meinte sie. »Mischa, du zählst von fünf rückwärts. Auf Los geht’s los!«
    Ich bückte mich, grub meine Finger in den feuchten Boden und passte auf meine Seite auf – reine Gewohnheit, denn auf dem Sportplatz meiner alten Schule in Neukölln hatte die Nebenläuferin manchmal nach mir getreten, bevor es losging. Keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt einfiel, wo ich mich auf den Lauf mit Judith so gefreut hatte, aber anstatt den Gedanken vertreiben zu können, erinnerte ich mich auch noch an das »Buuuh!«, das über den Sportplatz geschallt war, wenn ich mich trotz allem wieder an die Spitze gesetzt hatte.
    Ich schüttelte leicht den Kopf, wie um Wasser aus den Ohren zu schütteln, aber natürlich funktionierte es nicht, wie immer kamen Bilder und Erinnerungen ausgerechnet dann angeschlichen, wenn man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Dabei hatte ich in Deutschland sogar einen Trick gegen Demütigungen gehabt: Ich hatte mir eingebildet, dass das »Buuuh« in Wahrheit den anderen Läuferinnen galt und nicht mir. Eine Jüdin gewinnen zu lassen – diese Versagerinnen!
    Hilfe war auch von anderer Seite gekommen, gänzlich unerwartet. Bei der Olympiade hatte Jesse Owens gesiegt, nicht die deutschen Herrenmenschen, und diesen blieb nichts anderes übrig, als ihm, dem Neger zuzujubeln. Schließlich liefen die Kameras und die Deutschen waren ausdrücklich ermutigt worden, der Welt nicht ihr wahres Gesicht zu zeigen.
    Jesse Owens war mein Held. Er hatte es allen gezeigt und heimlich gab ich mir seinen Namen. Ziska Jesse Mangold, eine Sache zwischen ihm und mir, die mich beim Lauf gegen das Buh anfeuerte. Fünf, vier, drei, zwei, eins … ich hatte lange nicht mehr daran gedacht.
    Mischa, dieser Clown, rief »Peng!« statt Null. Ich musste lachen und lief eine Sekunde zu spät los, aber Judith brach den Start nicht ab, sondern legte dank des kleinen Vorteils geschickt anderthalb Meter Abstand zwischen uns. Na dann mal los, dachte ich und spurtete, Ziska Jesse Mangold, aber bis zum Ende der ersten Runde hatte sich die Distanz um keinen Deut verringert.
    Das war eine Überraschung. Eine Perspektive, die ich gar nicht kannte! Noch nie war ich hinter jemandem hergelaufen, und womöglich lag es daran – am Fehlen eines Verfolgers –, dass ich eine Weile brauchte, bis ich Tritt gefasst hatte. Judiths brauner Zopf wippte vor mir her, ich hörte ihre schnellen, geübten Schritte auf dem nassen Kies und sah Erde und kleine Steine unter ihren Schuhen auffliegen. Die Luft war kalt und es nieselte leicht, der Boden viel weicher, als ich gewohnt war, aber jeder Schritt schien etwas Frisches, Angenehmes, fast Reinigendes in mich hineinzupumpen.
    Und während wir zum zweiten Mal um die Kurve bogen, hinter der der Suzhou Creek in den Huangpu mündete, hörte ich es: Von den Sampans auf dem Fluss feuerte mich jemand an! Mich, zum ersten Mal in meinem Leben – und auf Chinesisch!
    Als Mischas Gestalt am Ende der zweiten Runde wieder an uns vorbeihuschte, spürte ich, dass ich schneller geworden war. Meine Füße berührten kaum noch den Boden, ich fühlte sie nicht mehr und flog dahin, hörte über dem fernen Tosen der Stadt den Wind meines

Weitere Kostenlose Bücher