Nanking Road
ich sofort unter Druck, aber noch mehr, als ich sie fürchtete, verehrte ich sie – wahrscheinlich gab es eins nicht ohne das andere.
Judith war selbst erst im letzten Sommer in Shanghai eingetroffen. Noch beim Aufnahmegespräch hatte der Direktor unserer Schule ihr ein Stipendium angeboten; auch er hatte sofort erkannt, wie außergewöhnlich sie war.
»Das könntest du auch schaffen«, meinte sie bescheiden zu mir.
»Ich? Ich kann nichts außer schnell rennen!«, erwiderte ich.
»Schnell rennen …? Das gibt’s ja nicht, das kann ich auch! Ich war die Schnellste in meiner alten Klasse in Deutschland!«
Ich sah Judith groß an. »Du etwa auch?«, fragte sie verblüfft.
Ich konnte nur nicken.
Judiths Augen leuchteten. »Wollen wir um die Wette laufen? Morgen nach der Schule, im Public Garden am Huangpu?«
»Vor allen anderen?«, fragte ich erschrocken.
»Nein, nur wir beide«, sagte Judith lächelnd. »Ganz für uns und nur zum Spaß.«
Ich war sprachlos. Nie hätte ich zu hoffen gewagt, dass Judith sich außerhalb der Schule mit mir verabredete! In der Nacht zuvor konnte ich kaum einschlafen vor Aufregung. War es ihr Ernst, wollte sie sich wirklich heimlich mit mir treffen? Ich versuchte mich selbst zu bremsen, aber ein geteiltes Geheimnis war nun einmal in nicht wenigen Fällen der Beginn einer echten Freundschaft. Das wusste jeder, oder etwa nicht?
Es war die erste Nacht seit unserem Weggang aus Berlin, in der ich beim Einschlafen ganz vergaß, an Bekka zu denken.
Während des morgendlichen Singens und Fahnehissens ließ ich mir nichts anmerken. Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als Judith gegenüber auch nur ein einziges Wort über unsere gestrige Abmachung zu verlieren. Ich hielt es für durchaus möglich, dass sie mir ins Gesicht lachte: »Hör mal, das war doch nichts als ein Witz, Ziska!«
Ich machte mich auf Enttäuschung gefasst. Ich fühlte Großzügigkeit und inneren Frieden sich tief in mir ausbreiten, als ich mir gelobte, Judith keinesfalls zu verübeln, dass sie ihre gestrigen Worte zweifellos schon vergessen hatte.
Doch zu meiner fast schwindligen Erleichterung flüsterte sie mir auf dem Weg zum Unterricht zu: »Um halb vier am Eingang zum Public Garden!«
In dem kleinen Park gegenüber vom deutschen Konsulat sah man keinen einzigen Chinesen. Am Eingang stand unübersehbar ein Schild mit zehn Regeln, zu denen die Bestimmung Foreigners only gehörte, doch es hatte eine Weile gedauert, bis ich übersetzen, begreifen und glauben konnte, was die Worte bedeuteten. Im Public Garden hatte jeder beliebige »Ausländer« Zugang, aber Einheimische waren unerwünscht.
Ich fragte mich, warum die Leute, die die Regeln für den Park machten, nach China gezogen waren, wenn sie etwas gegen Chinesen hatten! Die ganze Idee eines für Ausländer reservierten Parks gefiel mir nicht, sie erinnerte viel zu sehr an für Juden verbotene Zonen in Deutschland und deshalb – nicht so sehr wegen der Hakenkreuzfahnen, die gut sichtbar auf der anderen Straßenseite wehten – hatte ich den Public Garden bisher nie betreten, auch wenn ich gedurft hätte.
Nun musste ich, ob ich wollte oder nicht. Judith lebte in der Nähe, hatte sie mir verraten, wenn auch auf der »richtigen« Seite der Brücke, wahrscheinlich hatte sie den Park deswegen vorgeschlagen. Als ich am Nachmittag dort ankam, waren der gepflegte Rundweg und die vom Regen aufgeweichte Wiese fast menschenleer. Einige Krähen tippelten umher und pickten im Gras, eine Nanny , deren weiße Schwesterntracht unter ihrem Mantel hervorblitzte, schob mit weit über den Kopf gezogener Kapuze einen Kinderwagen um den Musikpavillon.
Ich brauchte nicht lange zu warten, bis ich unter den Passanten, die am Bund flanierten, Judith erkannte, die sich mit beschwingten Schritten näherte. Zu meiner Enttäuschung war sie jedoch nicht, wie versprochen, allein: Mit ihr, wenngleich einen halben Schritt zurück, kam Mischa Konitzer und trug ihr den Ranzen.
»Wir brauchen doch jemanden, der auf unsere Sachen aufpasst!«, rief sie mir zu, noch bevor sie mich erreicht hatte.
Das sah ich ein. Dennoch hätte ich mir gewünscht, sie hätte nicht ausgerechnet Mischa gebeten, bei dem zu Hause ich und die Meinen ohnehin ständig Gesprächsthema zu sein schienen. Aus dem erhofften Geheimnis zwischen Judith und mir wurde nun mit Sicherheit nichts!
Wir gingen ein Stück in den Park hinein, dann blieb Judith stehen und zog mit dem Schuh eine schnurgerade Linie über den
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