Nanking Road
den Deutschen – jedem und jeder Einzelnen von ihnen – nichts mehr zu schaffen haben wollte.
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Es wurde Juni, bis ich endlich erfuhr, dass Bekka in Sicherheit war. Als ich den Umschlag mit der englischen Briefmarke aus dem Postfach zog, war ich nach der ersten heißen Schrecksekunde nicht einmal besonders überrascht, hatte ich mir diesen Augenblick doch oft genug ausgemalt. Und auch, was ich mit der guten Nachricht tun würde, wusste ich: Ich atmete tief durch, ich trat hinaus auf die Straße, ich fuhr zum Bund und öffnete Bekkas Brief auf einer Bank an der Uferpromenade.
Coventry, den 30. Mai 1939
Dear Ziska! Ist es nicht wunderbar, dass ich das endlich schreiben kann? Fast fünf Monate nach Thomas bin auch ich nun in England, aber ist das überhaupt eine Überraschung für dich? Ich weiß nämlich, wem ich es zu verdanken habe: meiner besten Freundin Ziska! Ich bin bei zwei Tanten von Mrs Tatler gelandet, die ihr auf der Überfahrt getroffen habt, und ich hätte sogar schon früher kommen können, wenn eine Tante nicht im März einen Schlaganfall erlitten hätte. Jetzt geht es ihr besser, und hier bin ich und lebe mit zwei alten Engländerinnen in einem Haus wie aus einem Bilderbuch! Vorn ist ein kleiner Garten mit weißem Zaun und hinten ein Urwald aus Hecken und Büschen, an dem nichts verändert werden darf wegen der Vögel, die dort nisten.
Beide Tanten heißen Miss Read. Nach der Schule helfe ich im Haus – ein bisschen aufräumen und der Miss Read Gesellschaft leisten, die gelähmt im Bett liegt. Sie (Mildred) ist die lustigere von beiden, die andere (Marge) ist ziemlich streng und oft traurig. Das Haus riecht etwas schimmelig und mein Zimmer ist kaum größer als ein Doppelbett und lässt sich nicht heizen, aber egal, jetzt ist sowieso erst mal Sommer!
Thomas war letztes Wochenende aus Cambridge zu Besuch, die Reads waren ganz begeistert von ihm. Wir haben über unsere Eltern gesprochen und Miss Read (Marge) will sich umhören, ob jemand eine Köchin, einen Gärtner oder einen Butler braucht. Irgendwo in der Nähe muss auch eine deiner Cousinen wohnen. Mami schreibt, sie zieht den Hut vor deiner Tante, dass sie sich überhaupt von ihr getrennt hat, jetzt wo dein Onkel weg ist.
Meine Mutter kümmert sich ein bisschen um deine Tante, meine Eltern sind ja so dankbar für eure Hilfe! Immer mehr Namen stehen auf den Wartelisten für den Kindertransport und aus jeder Familie darf jetzt nur noch ein Kind gehen, es sei denn, man sorgt selbst für Pflegeeltern. Ohne eure Hilfe wäre ich also nicht hier. Dass die Reads nicht jüdisch sind, stört uns nicht, andere Familien aber schon, deshalb durfte ein Junge von eurer Liste nicht zu den Leuten, die ihn aufnehmen wollten. Und die englische Familie ist jetzt beleidigt und will überhaupt niemanden mehr, was ich genauso blöd finde.
In Berlin wird es immer schlimmer. Es gibt jetzt Judenhäuser für diejenigen, die aus ihren Wohnungen fliegen, und jüdische Volksküchen, weil Juden aus der allgemeinen Wohlfahrt ausgeschlossen wurden. Aber die Nazis haben alle Vermögen beschlagnahmt und es gibt keine reichen Juden mehr, die das finanzieren könnten. Familien, die keine Verwandten in der Stadt haben, sitzen also praktisch auf der Straße. Ich kann nur beten, dass wir Mama und Papa rechtzeitig rausholen. Wir haben niemanden mehr in Berlin.
Oft kann ich nachts nicht schlafen, dann geht mir durch den Kopf, was noch dazwischenkommen könnte, aber tagsüber sieht es viel besser aus. Thomas und ich sind in England und es gibt Leute, die uns helfen. Der Anfang ist gemacht.
Meine Eltern senden euch Grüße und Umarmungen und Gottes Segen. Sie wollen noch selbst schreiben und sich bedanken. Mama meint, ihr hättet mich wahrscheinlich gerettet. Eines Tages, wenn ich meine beste Freundin Ziska wiedersehe, mache ich das alles wieder gut.
Bis bald, deine Bekka
Manchmal glaube ich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich kann es nicht einmal benennen, aber irgendwelche wichtigen Fäden laufen in meinem Kopf anders zusammen als bei den meisten Leuten. Wenn man schwarz auf weiß in der Hand hält, dass man seine beste Freundin wahrscheinlich gerettet hat, dass sie in Sicherheit ist und für ihre Eltern der Anfang gemacht, dann sollte man doch von sich erwarten dürfen, dass man vor Freude völlig aus dem Häuschen gerät.
Stattdessen saß ich auf meiner Bank, blickte von Bekkas Brief auf das Gedränge der Sampans und Frachtschiffe im Huangpu und musste daran denken, wie
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