Nanking Road
schnell alles auch ganz anders hätte kommen können. Was, wenn wir Tatlers nicht getroffen hätten? Wir hätten auf der Überfahrt bloß an einem anderen Tisch sitzen müssen. Was, wenn der Weihnachtsabend nicht gewesen wäre? Ohne den Weihnachtsabend und das Aufsehen, das wir erregt hatten, hätten Tatlers vielleicht nicht einmal bemerkt, dass wir Juden waren. Papa und Mr Tatler wären nicht darüber ins Gespräch gekommen und Mr Tatlers Liste hätte es nie gegeben.
Man konnte, wenn man einmal anfing, sogar noch weiter zurückdenken: Was, wenn wir keine Schiffskarten bekommen oder wenn die Gestapo Papa nicht entlassen und wir die Reise gar nicht hätten antreten können? Wären wir noch in Berlin – in einem Judenhaus? Das Wort klang schrecklich, wie Waisenhaus und Armenhaus zusammen.
Es hätte auch einer von uns vor der Abreise krank werden können. Wer wusste, ob wir vielleicht sogar die Schiffskarten von einer Familie übernommen hatten, der genau das passiert war. Zwei Erwachsenen- und eine Kinderpassage, die ziemlich kurzfristig frei geworden waren … Mamu war vielleicht nur im richtigen Augenblick im Reisebüro gewesen. Das war nichts als Glück, genau wie alles andere; ebenso gut hätte es Pech sein können.
Ich saß auf meiner Bank am Bund und hätte mich gern gefreut, aber stattdessen wurde mir mit einem Mal bewusst, dass unser ganzes Leben an einem ziemlich dünnen Faden gehangen hatte, und das Leben von Onkel Erik und Bekka mitsamt ihren Familien hatte auch noch daran gehangen, und der Faden wurde immer dünner, je länger man darüber nachdachte.
Mischa nagte an seiner Unterlippe, als er die Neuigkeit erfuhr, und schwieg eine ganze Weile. Dann fluchte er leise: »Benjamin. Das kann nur Benjamin sein. Mensch, warum hab ich nicht daran gedacht? Seine Eltern würden doch nie erlauben …«
Er brach ab und sah mich ängstlich an. »Die Engländer sind jetzt beleidigt, sagst du? Sie wollen niemanden mehr?«
Schon tat es mir leid, diesen Teil von Bekkas Brief überhaupt erwähnt zu haben. »Nur eine Familie ist beleidigt«, behauptete ich rasch, »die anderen nicht.«
»Woher willst du das wissen? So etwas spricht sich doch herum«, erwiderte Mischa bedrückt und stopfte die Hände zu Fäusten geballt in die Hosentaschen.
Wir gingen die Bubbling Well Road hinunter. Ich hatte Mischa vor dem Schultor abgefangen und er begleitete mich zur übernächsten Tramhaltestelle, damit wir unterwegs in Ruhe reden konnten. Die meiste Zeit allerdings schwiegen wir und ich versuchte mich schon einmal daran zu gewöhnen, nach der Schule nicht mehr fieberhaft zum Postamt rennen zu müssen. Was ich von nun an dort abholte, würde ganz normale Post sein; für Tante Ruths und Evchens Überfahrt würden wir noch lange sparen müssen, um eine Nachricht daraus zu machen.
»Hätten deine Eltern dich denn gehen lassen?«, wollte ich endlich wissen und verschluckte die andere, die entscheidende Hälfte der Frage: zu einer nicht jüdischen Familie . Eigentlich hatte ich wenig Lust, daran zu rühren; man wurde ohnehin ständig daran erinnert, was zwischen uns und Konitzers stand. Vielleicht wollte ich nur testen, ob Mischa wusste, was ich meinte.
»Sicher nicht«, murmelte er und ich dachte: Ein Wunder, dass sie sich überhaupt mit uns abgeben.
Schon ärgerte ich mich doch. »Bekka geht auch in die Synagoge, dass du’s nur weißt«, bemerkte ich. »Sie feiern Schabbat und meiden Schweinefleisch und in einer Kirche war sie ein einziges Mal. Dass sie jetzt in einer nicht jüdischen Familie lebt, heißt nicht, dass irgendetwas mit ihr oder ihren Eltern nicht stimmt!«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, erwiderte Mischa ärgerlich. »Mensch Ziska, glaubst du etwa, ich wollte nach England? Da hätten sie mich schon an den Zug ketten müssen! Ich weiß, dass du meine Eltern nicht leiden kannst, aber ich würde mich nie von ihnen trennen!«
»Was?«, rief ich perplex. »Ich soll deine Eltern nicht leiden können? Hör mal, das ist ja wohl genau umgekehrt!«
»Ach, und warum bezahlen sie dir die Schule?«
Ich blieb abrupt stehen. Noch nie hatte Mischa davon gesprochen, was seine Eltern für mich taten, und ich war so entrüstet, dass es nahezu aus mir herausplatzte.
»Um uns zu zeigen, wie viel besser ihr seid mit eurem ganzen Bescheidwissen und Dazugehören! Meinst du, wir kriegten nicht mit, wie dein Vater auf uns herabsieht? Meinst du, ich wollte die Schule ausgerechnet von ihm bezahlt bekommen? Na, vielen Dank!«
Ich
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