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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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abbekommen hatte, was an Schönheit zu vererben gewesen war, und man konnte Tante Ruth nicht verdenken, dass sie jemanden brauchte, dem sie diese Ungerechtigkeit übel nehmen konnte.
    Ihr Ehemann, Onkel Erik, war in jeglicher Hinsicht die bessere Hälfte meiner Verwandtschaft. Er war rundlich, aber flink, stets gut gelaunt und nie um das letzte Wort verlegen, und es wunderte mich überhaupt nicht, ihn zwar verdreckt und abgemagert, aber dennoch zuversichtlich die Planke herab auf mich zueilen zu sehen. Er schien fast unverändert.
    Und auch das war wie früher: Von Onkel Erik begrüßt zu werden hieß, abrupt vom Boden gerissen und sich vor Begeisterung praktisch über seine Schulter werfen zu lassen. Nach all der Angst, die ich eben noch ausgestanden hatte, unvermittelt auf eine vertraute Umarmung zu stoßen, überrumpelte mich derart, dass ich zu meiner eigenen und Onkel Eriks Bestürzung in Tränen ausbrach.
    Etwas hilflos sah er sich um. »Wo sind denn die anderen?«
    »Zu Hause«, schluchzte ich. »Überraschung.«
    Einige seiner Reisekameraden blieben stehen, um sich von meinem Onkel zu verabschieden, bevor sie den abfahrbereiten Lastwagen bestiegen. Um uns drängten sich Seesäcke, Koffer, dunkle Jacken und wieder stieg mir der modrig-feuchte Geruch in die Nase, der von den Männern ausging. »Du fährst dann wohl nicht mit«, bemerkte einer von ihnen neidvoll.
    »Wohl nicht«, stimmte Onkel Erik zu. »Aber ich weiß ja, wo ich euch finde. Und wie«, fragte er mich, »kommen wir zwei jetzt nach Hause?«
    Nach Hause, dachte ich staunend. Wie konnte mein Onkel, kaum dass er seinen Fuß auf chinesischen Boden gesetzt hatte, schon von zu Hause reden? Bei mir hatte es Monate gedauert, und meine Eltern wollten das Wort überhaupt noch nicht über die Lippen bringen.
    Vielleicht lag es daran, dass wir bereits hier waren und Onkel Erik erwartet hatten. Während wir zur Tramhaltestelle gingen, machte ich mir bewusst, dass der allergrößte Teil meiner Familie sich nun tatsächlich in Shanghai befand – und was bedeutete zu Hause anderes, als dass diejenigen beieinander waren, die zusammengehörten?
    Als hätte er meine Gedanken erraten, blieb Onkel Erik plötzlich stehen, ließ seinen Blick über das Lichtermeer der Uferpromenade schweifen, seufzte tief und meinte: »Fehlen nur noch Ruth und Evchen.«
    »Und Betti«, stimmte ich pflichtschuldigst zu, obwohl keine Rede davon sein konnte, dass mir die kleinen Nervensägen fehlten.
    Onkel Erik sah mich an. Seine Schultern hingen herab. »Ach, das wisst ihr wohl noch gar nicht!«, sagte er traurig. »Betti ist jetzt in England!«
    Ich fühlte, wie mein Mund aufklappte und statt einer Frage nur ein wenig Luft ausströmte.
    »Auf einem Kindertransport«, ergänzte Onkel Erik. »Wir wissen selbst nicht, wie, denn Ruth hatte die Mädchen gar nicht registrieren lassen. Irgendwie muss ihr Name auf eine Liste von Kindern geraten sein, die privat einen Platz suchen, und letzten Monat, ich war gerade aus der Haft entlassen, schrieb tatsächlich eine Familie aus Coventry. Das ist eine große Industriestadt in der Mitte Englands, wir haben im Reiseführer nachgesehen.«
    Onkel Erik kratzte sich im Nacken. Ich hörte, wie seine Hand über raue Haut schabte.
    »Aber Tante Ruth hat kein Wort davon geschrieben!«, fand ich endlich meine Stimme wieder.
    »Wusste wohl nicht, wie«, murmelte Onkel Erik. »War ja keine leichte Entscheidung. Ich in China, Betti in England … nur Evchen ist jetzt noch in Berlin, sonst wäre deine Tante ganz allein. Bis wir sie nachholen natürlich.« Onkel Erik straffte den Rücken. »Und zwar alle beide! Sieh dir das an, was für eine herrliche Stadt!«
    Er atmete tief ein und breitete die Arme aus, als wollte er alle Lichter um uns herum umarmen. »Ab sofort geht es aufwärts mit uns, Ziska.«
    Genau das beschwor Papa auch immer und ich hätte Onkel Eriks Hoffnung gern bestätigt, aber ich war noch immer zu betäubt, um zu antworten.
    Mr Tatlers Liste war angekommen! Eine private Liste von Kindern, die einen Platz suchen , kursierte in der Mitte Englands.
    Auf den nächsten Kilometern, eingequetscht auf unserem Stehplatz in der dritten Klasse der Tram zwischen Chinesen mit viel Gepäck, die wie gewohnt auf meinen Füßen herumtrampelten und mich in die Seiten stießen, hatte ich reichlich Zeit, zur Besinnung zu kommen. Wie gern hätte ich Onkel Erik jetzt mit Fragen bestürmt, aber als wir ausstiegen, meinte er nur: »Lass es gut sein, bis wir bei deinen

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