Nanking Road
trennen wollen, kam und wir gingen vorbei. Wartete Mischa darauf, dass auch ich ihm etwas erzählte? Konnte er von Frau Kepler wissen? Aber mit Frau Kepler war es vorbei, also sagte ich stattdessen: »Die Deutschen sind vielleicht auch nicht alle gleich. In unserem Haus in Berlin wohnte ein deutsches Mädchen, meine Freundin Christine. In der Nacht, als die Nazis kamen, bin ich aus dem dritten Stock gesprungen und Christine hat mir geholfen, mich zu verstecken.«
»Du bist aus dem dritten Stock gesprungen?«, wiederholte Mischa ungläubig.
»In einen Baum im Hinterhof. Bekka und ich hatten das vorher ausprobiert. Christine hat mir heimlich zu essen und einen Mantel gebracht, sie hätte mich am liebsten noch weiter versorgt, aber ich hatte dann doch keine Lust, im Mülltonnenverschlag hocken zu bleiben.«
Ich quetschte ein Lachen hervor, es gelang nur mit Mühe. Die Erinnerung an die Stunden im kalten Hinterhof wurde unangenehm lebendig, während ich mich davon reden hörte. Bisher hatte ich nur vom Wolf geträumt, der in der Wohnung zurückgeblieben war, aber auch aus meinem Sprung in die Birke, aus dem dunklen, stinkenden Verschlag und meiner Angst vor dem Auftauchen der Müllmänner ließ sich womöglich noch ein Albtraum machen.
»Aus dem dritten Stock …!«, wiederholte Mischa beeindruckt.
Sein Staunen tat mir gut. Eigentlich, dachte ich, war der Umgang mit Mischa Konitzer ziemlich unberechenbar. An manchen Tagen waren wir wie beste Freunde, an anderen mochten wir einander nicht einmal.
»Ich spiele besser Schach als Rainer«, verriet Mischa, »aber ich passe auf, ihn nicht zu oft zu schlagen. Paps meint, die Deutschen würden uns am liebsten als Untermenschen sehen, aber in Wirklichkeit haben sie nur Angst, dass wir ihnen überlegen sein könnten.«
»Und? Glaubst du das auch?«
Mischa hob die Schultern. »Es gibt kluge und dumme Juden, genauso wie kluge und dumme Deutsche. Die Frage ist, wer gerade das Sagen hat.«
»Wenn die klugen Deutschen zulassen, dass die Dummen das Sagen haben, können sie aber nicht besonders klug sein«, gab ich zu bedenken und Mischa meinte: »Ich glaube, in Deutschland gibt es im Augenblick einfach zu viele Dumme. Sie sind in der Überzahl. Aber wer zu dumm ist, kann bekanntlich nicht überleben, über kurz oder lang werden sie sich also selber ausrotten.«
Ich musste lachen. Die Vorstellung gefiel mir. Mischa fügte hinzu: »Hoffentlich sind unsere Freunde aus Deutschland heraus, wenn es losgeht«, und etwas an seinem Ton ließ mir das Lachen augenblicklich in der Kehle stecken bleiben.
»Es gibt vielleicht bald Krieg. Hitler ist scharf auf Polen. Polen zieht seine Truppen zusammen und hat einen Pakt mit England und Frankreich geschlossen. Wenn Polen angegriffen wird, müssen die anderen Länder ihm beistehen und gegen Deutschland gehen.«
»Aha, und woher weißt du das?«
»Von Rainer«, antwortete er und plötzlich fiel mir wieder ein, was ich die Kundin im Reisebüro schon vor Wochen zu Frau Kepler hatte sagen hören.
»Wenn das alles stimmt«, sagte Mischa leise, »dann haben meine Freunde vielleicht nicht mehr viel Zeit, nach England zu kommen. Diese idiotischen Eltern von Benjamin! Weißt du, was ich glaube? Sie müssen zu den dummen Juden gehören.«
Ich sah, wie er die Zähne zusammenbiss. »Hoffentlich haben sie für die anderen nicht alles verdorben«, sagte er leise.
Zögernd gestand ich: »Papa und ich haben noch einmal an Tatlers geschrieben.«
Mischa blieb stehen, mir wurde warm. Hoffentlich fragte er nicht, was wir geschrieben hatten! Nur von Bekka und meinen Cousinen war ja die Rede gewesen, Mischas Freunde hatten wir gar nicht erwähnt. Ich war zu feige gewesen, Papa zu erzählen, wie lang die Liste ohne sein Wissen geworden war – oder dass auch Bekkas Name bereits darauf gestanden hatte.
»Ihr habt Tatlers Adresse?«, fragte Mischa.
»Nein, aber sie sind Lehrer an der britischen Schule.«
»Mensch!«, rief Mischa. »Dann könnten wir ja gleich mal hingehen!«
Wir?, dachte ich überrascht, denn meine eigenen Bitten an Tatlers hatten sich ja erledigt – Bekka und Betti waren in England, Evchen demnächst auf dem Weg nach Shanghai.
Aber dann dachte ich: Warum nicht? Mischa und ich hatten die Sache schließlich gemeinsam begonnen, und im Übrigen war ich viel zu froh, dass wir uns wieder vertrugen.
Die britische Schule musste ähnliche Unterrichtszeiten haben wie unsere und kaum saßen wir in der Straßenbahn, begann Mischa auch schon zu
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