Nanking Road
hielt den Atem an, als ich Mischas Gesicht sah. Am liebsten hätte ich jedes Wort auf der Stelle zurückgespult – nicht, weil ich nicht die Wahrheit gesagt hatte, sondern weil ich überhaupt nicht damit gerechnet hatte, dass ich Mischa damit wehtun würde.
»Auf dich sieht er nicht herab«, sagte er leise.
»Aber meine Eltern verachtet er!«
»Nein, glaub das bloß nicht! Für deine Eltern hat er keine Hoffnung, das ist alles.«
Tränen schossen mir in die Augen. »Dazu hat er kein Recht! Verstehst du das nicht?«
»Doch«, antwortete Mischa schlicht.
Es war nicht das erste Mal, dass ich mich einfach umdrehte und ihn stehen ließ. Doch diesmal war es anders, diesmal spürte ich mit jedem Schritt, dass es das letzte Mal war. Mir reichte es. Wir hatten nichts gemeinsam! Wir hatten uns auf der Reise kennengelernt, das war alles. Es wurde Zeit, dass wir die Überfahrt endlich beendeten.
Ich war ziemlich erleichtert, als ich Schritte hinter mir hörte. Irgendwie war ich selbst erstaunt, wie schwer mir das endgültige Weggehen gefallen war.
Mischa hielt mich am Arm fest. »Ich treffe mich heimlich mit Rainer«, sagte er.
Fast hätte ich gefragt: Welcher Rainer …? Dann fiel mir der Junge wieder ein, mit dem Mischa auf der Scharnhorst Schach gespielt hatte.
»Du hast gedacht, er wollte nach der Reise nichts mehr von mir wissen, stimmt’s?«, sagte Mischa vorwurfsvoll. »Ja, ehrlich gesagt dachte ich das auch. Sein Vater ist in der Partei, er in der Shanghaier Hitlerjugend. Aber kaum hatte ich ihm meine Adresse in den Briefkasten geworfen, stand er auch schon vor der Tür!«
Mischa senkte den Kopf. Einen Augenblick sah es aus, als hätte er keine Lust, weiterzureden. Dann gestand er: »Mein Vater hat ihn rausgeschmissen. Gesagt, dass wir mit Deutschen jetzt glücklicherweise nichts mehr zu tun haben müssen. Wenn er je herausbekommt, dass ich Rainer noch treffe, ist der Teufel los.«
Ich war verblüfft. So viel Mut, sich Onkel Victor zu widersetzen, hätte ich Mischa gar nicht zugetraut! Aber so leicht wollte ich ihn dennoch nicht davonkommen lassen.
»Was ist mit Tante Irma?«, fragte ich herausfordernd. »Sie ist auch Deutsche und trotzdem hat dein Vater sie geheiratet.«
»Mami war Deutsche«, betonte Mischa. »Jetzt ist sie es nicht mehr.«
»Einfach so?« Ich war verdutzt.
Mischa hob die Schultern. »So sagt es jedenfalls mein Vater.«
Ich schüttelte den Kopf. Onkel Victors Theorie wies eine so große Lücke auf, dass man eine ganze Hand hätte hineinlegen können – seit wann konnte einer von uns selbst bestimmen, was er war? Wenn dies so wäre, dann wäre sicherlich keiner von uns ein Flüchtling in Shanghai!
»Bis vor zwei Jahren«, setzte ich Mischa auseinander, »wusste ich nicht einmal, dass ich jüdisch bin. Ich bin in Berlin geboren, ich bin evangelisch, wir sprechen zu Hause deutsch. Bekka und ich haben versucht, es herauszubekommen, aber es konnte uns nicht einmal jemand sagen, ob die Juden ein Volk, eine Rasse oder eine Religion sind.«
»Juden sind von allem etwas«, erklärte Mischa feierlich. »Und es heißt nicht die Juden, sondern wir Juden, Ziska.«
»Schön, aber wenn wir von allem etwas sind, sind wir doch auch etwas deutsch!«
Überrascht horchte ich meinen Worten nach. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ein großes Welträtsel gelöst zu haben.
Aber Mischa schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, das ist vorbei«, erklärte er entschieden.
»Für dich und deine Eltern vielleicht«, schoss ich sofort zurück. »Auch für mich und Mamu. Aber mein Vater ist Jude und Deutscher.«
»Ziska, hör auf, das gibt es nicht mehr!«
»Doch, das gibt es – weil er sich nämlich so fühlt! Vielleicht bedeutet Jude zu sein gar nicht für alle dasselbe. Vielleicht kommt es darauf an, was man in seinem Herzen hat.«
Mischa runzelte die Stirn, und ich errötete und ging unwillkürlich schneller. Das Judentum, eben noch unerwartet schlicht und klar, erschien mir einen Augenblick später wieder so kompliziert und zerbrechlich, dass ich am liebsten mein Schreibheft herausgeholt, meine Entdeckung aufgeschrieben und festgehalten hätte – und zwar auf der Stelle, bevor ein anderer sie wieder zerpflücken konnte.
Aber als Mischa wieder zu mir aufschloss, sagte er: »Wie Paps mit Rainer umgegangen ist, war nicht richtig. Seitdem frage ich mich, ob er nicht auch in anderen Dingen manchmal irrt.«
Und das war mehr Entgegenkommen, als ich erwartet hatte.
Die Haltestelle, an der wir uns hatten
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