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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Eltern sind, sonst muss ich alles doppelt erzählen!«
    »Na gut, aber dann verrate ich dir auch noch nichts!«, erwiderte ich übermütig. »Zufällig weiß ich nämlich genau, wie Evchen und Betti auf diese Liste geraten sind.«
    Onkel Erik rückte seinen Seesack über der Schulter zurecht und sah mich nachdenklich an. »Wir hatten uns schon gedacht, dass ihr dahintersteckt«, sagte er schließlich.
    Ich nahm ihm nicht übel, dass die Worte nicht begeistert klangen, ich lebte lange genug Tür an Tür mit Frau Fränkel, um zu ahnen, was der Kindertransport für diejenigen bedeutete, die sich trennen mussten. Aber als Onkel Erik neben mir über die Brücke ging, spürte ich wieder, wie dankbar ich war, dass es andere Kinder traf als mich.
    »Was ist das?«, fragte mein Onkel scharf, als in der Dunkelheit der japanische Posten vor uns auftauchte.
    Ich flüsterte ihm zu, dass die Engländer den Teil Shanghais bewachten, den wir soeben verlassen hatten, und dass ab der Mitte der Garden Bridge die japanische Besatzungsmacht zuständig war. »Aber keine Sorge, die Japaner kontrollieren nicht uns, sondern nur die Chinesen, die den Krieg gegen sie verloren haben.«
    »Den Krieg verloren ist gut«, murmelte Onkel Erik. »Die Chinesen sind angegriffen worden, das ist etwas völlig anderes.«
    »Ich weiß«, beeilte ich mich zu versichern. »Aber viele wohnen im Settlement und dort können die Japaner ihnen nichts anhaben.«
    »Settlement! Ein schönes Wort, das es nicht netter macht«, brummte Onkel Erik und marschierte mit so finsterem Gesicht an dem Posten vorbei, dass mir das Herz in die Hose rutschte und ich fürchtete, der Japaner würde uns sein Bajonett in den Weg stoßen.
    Ich war froh, dass es dunkel war – vielleicht hatte der Soldat den Blick meines Onkels gar nicht bemerkt. Er starrte wie gewohnt an uns vorbei und machte keine Anstalten, uns anzuhalten, doch erst am Ende der Brücke erlaubte ich mir, wieder normal zu atmen.
    »Onkel Erik«, warnte ich, »du darfst die Japaner nicht ansehen, wenn du über die Brücke gehst! Dann können sie so tun, als sähen sie dich auch nicht.«
    »So etwas habe ich lange genug praktiziert«, meinte Onkel Erik grimmig. »Und meine Erfahrung sagt mir, dass es der anderen Seite irgendwann nicht mehr reicht.«
    Ich hielt lieber den Mund – Onkel Erik würde schon selber merken, dass es in Shanghai Dinge gab, mit denen man sich einfach abfinden musste.
    Hongkou im Dunkeln war sogar noch furchterregender, als ich mir vor ein paar Stunden ausgemalt hatte. Finster und herausfordernd blickende Männer lungerten auf unserem Weg, streitende Betrunkene und schrill geschminkte Frauen mit harten Gesichtern; Gestalten taumelten auf uns zu, denen der süßliche, Übelkeit erregende Geruch von Opium anhaftete. Sie lallten Unverständliches vor sich hin und bettelten uns aufdringlich an.
    Vorsichtshalber gingen wir mitten auf der Straße, meine Hand fest in der meines Onkels, und die Nachtgestalten ließen uns in Ruhe – vielleicht weil Onkel Erik einen Kopf größer war als die meisten hier. Ich ging jede Wette ein, dass nicht einmal Bekka sich getraut hätte, alleine im Dunkeln durch Hongkou zu laufen!
    Kurz bevor wir die Chusan Road erreicht hatten, kam, wovor ich mich am meisten fürchtete. Dabei wusste ich, dass es jede Nacht hier draußen geschah. Wenn ich im Bett liegend daran dachte, wühlte ich mich jedes Mal tief unter meine Decke und war dankbar, dass eine Wand, ein vergittertes Fenster und mehrere Meter Höhe zwischen mir und der Straße lagen.
    »Was macht der denn da?«, fragte Onkel Erik viel zu laut.
    Direkt vor uns hatten zwei Chinesen ihren Holzkarren angehalten, hoben ein Bündel heraus und schleppten es an den Straßenrand. Es sah aus wie ein zusammengerollter Teppich.
    Eine kalte Gänsehaut kroch mir über den Kopf. »Die Leute legen nachts ihre Toten neben die Straße«, flüsterte ich. »Jeden Morgen kommt ein Wagen und sammelt sie ein.«
    »Großer Gott«, stieß Onkel Erik ungläubig hervor und trat noch etwas näher heran.
    Wenn es eine Sache gab, die ich verstanden hatte, dann war es die: Chinesen und Flüchtlinge blieben in Hongkou unter sich. Weder sie noch wir stellten Fragen, nur deshalb ließen sie zu, dass Fremdlinge auf so engem Raum mit ihnen zusammenleben durften. Eine einzige Bemerkung, ein einziger Streit oder kritischer Blick konnte alles Wohlwollen verderben und die Einheimischen gegen uns aufbringen, warnte Papa. Daran solle ich immer denken, wenn mir

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