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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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irgendetwas da draußen nicht gefiel.
    Die Männer, die die Leiche abgelegt hatten, verharrten in ihrer Bewegung, als sie uns stehen sahen. Misstrauisch starrten sie zurück. Mit einer Entschlossenheit, die mich selbst überraschte, zog ich an Onkel Eriks Arm und bestimmte: »Wir gehen besser weiter!«
    »Da ist sie!«, schrie in diesem Augenblick jemand und rief meinen Namen; gleich darauf hörte ich hastige Schritte auf dem Pflaster und sah mehrere Personen aus der Dunkelheit brechen. An der Spitze der kleinen Gruppe hüpfte der kastenförmige Hut von Onkel Victor. Schlagartig erinnerte ich mich, dass ich noch in ganz anderen Schwierigkeiten steckte.
    »Papa!«, rief ich flehentlich. »Sieh nur, wen ich mitgebracht habe!«
    Aber zu spät, Onkel Victors rechter Arm schoss auf mich zu und die Hand landete auf meiner Wange. »Deinen Vater so zu erschrecken! Schäm dich!«
    Ich musste ihm zugestehen, dass es nur eine leichte Ohrfeige war, trotzdem hätte ich damit gerechnet, dass von den nunmehr immerhin zwei Männern, die zu mir gehörten, wenigstens einer ein Wörtchen dazu zu sagen gehabt hätte! Stattdessen schrie Papa »Erik!« und riss meinen Onkel in seine Arme, und eine Sekunde später wusste ich, wie es sich anhört, wenn erwachsene Männer weinen.
    »Wo kommst du jetzt her?«, fragte Onkel Victor streng.
    »Ich habe meinen Onkel vom Schiff abgeholt«, sagte ich und schielte nach meinem Vater. Ich erwog, ebenfalls ein wenig zu heulen, immerhin war ich gerade von jemandem geohrfeigt worden, der nicht einmal zu meiner Familie gehörte. Aber beim Anblick von Papa und Onkel Erik blieb mir mein eigener Schluchzer in der Kehle stecken.
    Papa, Onkel Victor und Mischa hatten sich offenbar allein auf die Suche nach mir gemacht. Wahrscheinlich hielt Tante Irma bei uns zu Hause die Stellung und Mamu war noch auf der Arbeit und ahnte nichts.
    »Woher wusstest du, wann das Schiff ankommt?«, verhörte mich Onkel Victor.
    »Ich habe es auf dem Huangpu stehen sehen, als ich aus der Schule kam. Der Name stand ja groß außen dran: Sasebo !«
    »Das klingt mir aber nach einem ziemlich großen Zufall«, sagte Onkel Victor misstrauisch.
    Mischa, der neben ihm stand, warf mir einen Blick zu, als wollte er mich davor warnen, jetzt überhaupt noch etwas zu sagen.
    Ich sah Onkel Victor in die Augen. Ich nahm ihm die Ohrfeige ziemlich übel, auch sein Hinterhalt mit dem Bohrer fiel mir mit einem Mal wieder ein, und meine Stimme klang erfreulich kühl, als ich antwortete: »Das war ja auch kein Zufall. Onkel Erik hat uns den Namen des Schiffes geschrieben und ich hab mir gedacht, geh doch heute einfach mal an den Bund und sieh nach. Und da … peng!«
    »Du hättest«, erwiderte Onkel Victor mürrisch, »natürlich auch nach Hause laufen und etwas sagen können.«
    Ich sah ihm an, dass er mir kein Wort glaubte, sich widerwillig jedoch damit abzufinden begann, mich keiner Lüge überführen zu können.
    »Wenn ich gewusst hätte, dass es so lange dauert, hätte ich das natürlich getan. Aber plötzlich wurde es dunkel, und da … und da …« Meine Stimme zitterte.
    »Sie hatte Angst, allein nach Hause zu laufen, Paps«, übersetzte Mischa.
    Meine Augen füllten sich mit Tränen. So hilflos, klein und elfjährig, wie ich aus Onkel Victors Perspektive nun aussehen musste, konnte ich nur hoffen, dass es ihm für ein paar Nächte den Schlaf rauben würde, mich geohrfeigt zu haben!
    »Soll sich dein Vater mit dir auseinandersetzen!«, gab er sich endlich geschlagen und hob die Hände, als hätte er wieder einmal alles für mich getan, was er konnte.
    Auf meinen Vater war Verlass: In seiner überschwänglichen Freude und Erleichterung über Onkel Eriks Ankunft hatte nichts anderes Platz; er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, mir Vorwürfe zu machen oder noch irgendetwas wissen zu wollen. Mamu erging es ebenso, als sie eine Stunde später müde und mit schmerzendem Rücken nach Hause kam – und es Onkel Erik war, der ihr die Tür öffnete.
    Onkel Victor und Mischa blieben die Einzigen, die sich fragten, woher ich von der Ankunft der Sasebo hatte wissen können, aber Vorsicht war nicht der Grund, warum ich beschloss, mich von Frau Kepler in Zukunft fernzuhalten. In dieser Nacht, während wir auf Betten und Fußboden saßen und zuhörten, was Onkel Erik aus Berlin berichtete, trat mir bitter vor Augen, was ich die ganze Zeit geahnt, aber nicht hatte wahrhaben wollen: wie unerhört meine Besuche im Reisebüro gewesen waren und dass ich mit

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