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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Schritt zurück.
    »Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie Gottes Segen«, erklärte er förmlich. »Sie sind gute Menschen. Bitte grüßen Sie Ihre Frau.«
    »Euer Englisch«, bemerkte Mr Tatler, »ist ja schon viel besser.«
    Er lehnte sich über den Zaun. Wir deuteten dies als eine Form des Entgegenkommens und traten einen halben Schritt näher.
    »Meine Frau«, sagte Mr Tatler nach kurzem Zögern, »sieht eure Freunde vielleicht bald. Sie geht nämlich zurück nach England.«
    »Ach, wie schade, gefällt es ihr hier denn nicht?«, fragte Mischa höflich, aber ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn bereits kombinierte. Wenn wir persönlich jemanden in England kennen, gibt es vielleicht noch eine Möglichkeit!
    »Doch«, meinte Mr Tatler. »Aber wenn es Krieg gibt, möchte sie bei ihren alten Eltern sein.«
    Zum zweiten Mal am selben Nachmittag fiel das Wort Krieg und man hätte glauben können, ich hätte mich schon ein wenig daran gewöhnt, aber davon konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Krieg schien eines dieser Worte zu sein, die erst mit der Wiederholung so richtig bei einem ankommen. Mischas und Mr Tatlers Worte vom Krieg taten sich zusammen und drängten gemeinsam in meinen Kopf, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, da oben müsste etwas zerspringen.
    Mr Tatler sah mein erschrockenes Gesicht und meinte: »Hör mal, für euch Juden muss das doch eine gute Nachricht sein! Der Anfang vom Ende Adolf Hitlers. Die Welt wird nicht zusehen, wie er sich halb Europa einverleibt.«
    »Wollen Sie kämpfen?«, fragte Mischa respektvoll.
    Mr Tatler musste lächeln. »Wir Engländer haben auch hier eine Verantwortung. Auf keinen Fall werden wir das Settlement preisgeben.«
    »Das Settlement?«, stotterte ich. »Bis hierher werden die Nazis doch nicht kommen!«
    »Nein, ganz bestimmt nicht!«, versicherte Mr Tatler sofort, doch es war nicht zu überhören, dass noch ein Aber mitschwang.
    »Sir«, sagte Mischa, »was wird Ihrer Meinung nach mit den Juden in Deutschland passieren, wenn ein Krieg ausbricht?«
    Mr Tatler kratzte sich am Kopf.
    »Wie viel Zeit haben sie nach Ihrer Einschätzung, um rechtzeitig herauszukommen?«
    »Wenn die Eltern deines Freundes ihn nicht gehen lassen wollen, gibt es da ein Problem«, meinte Mr Tatler gedehnt.
    Mischa schluckte, blickte ihn fest an und erinnerte ihn: »Es stehen noch zwei andere Jungen auf der Liste, Sir.«
    Langsam konnte ich nicht anders als ihn bewundern. Wenn der Engländer nicht bereits begann, von dem klugen, wohlerzogenen Mischa auf dessen Freunde zu schließen, stimmte irgendetwas nicht mit ihm!
    Ich behielt recht. »Meine Frau wird sehen, was sie tun kann«, versprach Mr Tatler, und plötzlich fielen ihm sogar noch weitere Details der Liste ein, die er vor Monaten nach England geschickt und dann vergessen haben musste. »Es war von zwei kleinen Mädchen die Rede, wenn ich mich nicht irre?«
    »Meine Cousine Betti ist schon in England«, antwortete ich. »Evchen soll mit meiner Tante nach Shanghai nachkommen. Mein Onkel ist auch seit ein paar Wochen bei uns.«
    Ich konnte es damals noch nicht wissen, aber dies waren Worte, die ich mir nie verzeihen würde.
    Wir standen noch ein paar Minuten mit Mr Tatler am Gartentor und berichteten, wo wir zur Schule gingen und wie unsere Eltern in Shanghai zurechtkamen, aber wir achteten darauf, es nicht zu ausführlich werden zu lassen – es war klar zu erkennen, dass Mr Tatler endlich ins Haus wollte und nur der Höflichkeit halber noch zwei, drei Fragen stellte. Als er unvermittelt zum Wetter überging, verstanden wir dies als Signal, uns nochmals zu bedanken und mit den besten Grüßen an seine Frau zu verabschieden.
    In der Straßenbahn wirkte Mischa zerknirscht, obwohl der Besuch bei Mr Tatler ein Erfolg gewesen war. Ich konnte mir denken, warum. Die Sekunde, in der er Benjamin aufgegeben hatte, war mir nicht entgangen, aber ich sprach ihn lieber nicht darauf an. Es wäre kein Trost gewesen, wenn ich bestätigt hätte, dass er für diesen Freund jetzt nichts mehr tun konnte.
    Frau Fränkel saß wieder auf der Treppe, als ich nach Hause kam. Zu meiner unendlichen Erleichterung hatte sie seit Kurzem begonnen, ab und zu ihre Kleider zu wechseln, zu baden und die Haare zu waschen; von »regelmäßig« konnte zwar noch keine Rede sein, aber man brauchte immerhin nicht mehr die Luft anzuhalten, wenn man an ihr vorbeiging. Ihr Gesicht, das zuletzt fast schon Beulen geworfen hatte, schwoll merklich ab, seit sie nicht mehr

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