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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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zaudern und zu zweifeln. Es hatte, meinte er, bestimmt keinen Sinn, uns so spät am Nachmittag überhaupt noch auf den Weg zu machen. Nachdem ich ihm einen kleinen Vortrag über die vielen Gelegenheiten gehalten hatte, die man im Leben verpassen konnte, stimmte er mir jedoch zu, dass er sich gar nicht erlauben konnte, sein Glück nicht wenigstens zu versuchen.
    Er verlor nie ein Wort darüber, aber ich konnte mir vorstellen, dass meine neu entdeckte Theorie von der Bedeutung kleinster Zufälle auch ihm danach nicht mehr aus dem Kopf ging. Die Schüler der britischen Schule mochten längst zu Hause sein, aber hinter dem Zaun und auf dem Schulhof tat sich was. Ein Lastwagen stand vor dem Eingang und zwei Männer entluden Kisten, die an diesem Vormittag per Frachtschiff angekommen sein mussten.
    Es überraschte mich überhaupt nicht, in einem der Männer Mr Tatler zu erkennen. Wenn meine Theorie stimmte, und danach sah es zunehmend aus, dann hatte es einfach so sein müssen! Mr Tatlers Aktentasche stand mit darübergelegter Krawatte an der Treppe, er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt, schleppte und schwitzte. Der andere Mann war in Arbeitskleidung und bestimmt der Hausmeister; ich kombinierte, dass Mr Tatler bereits auf dem Heimweg gewesen, aber dazu verdonnert worden war, beim Entladen der Kisten zu helfen. Wir brauchten nur zu warten, bis er fertig war und nach Hause gehen durfte.
    Während wir am Zaun lehnten und beobachteten, wie der arme Mr Tatler rackerte, beschlich mich der erfreuliche Gedanke, dass ich – im Gegensatz zu ihm – möglicherweise dazu bestimmt war, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, und ein völlig neues Gefühl von Wichtigkeit kroch in mir hoch.
    Nach einer Weile verschloss der Hausmeister die Ladeklappe des Lastwagens und dieser rollte vom Hof, Mr Tatler warf seine Krawatte in die Aktentasche und kam auf das Schultor zu. Mit klopfendem Herzen rückten wir zum Eingang vor.
    »Hello, Mr Tatler«, grüßte ich.
    Meine Stimme klang ziemlich zaghaft für jemanden mit meiner Verantwortung, aber ich musste mich ja auch erst daran gewöhnen.
    »Hello, dear«, sagte Mr Tatler, nickte auch Mischa kurz zu und ging an uns vorbei.
    Ich war perplex. Da spukte mir der Mann wochen- und monatelang im Kopf herum, war meine ganze Hoffnung, ich betete sogar für ihn – und er erinnerte sich nicht einmal an mich …?
    »Hinterher!«, flüsterte ich Mischa entschlossen zu und in kleinem Abstand nahmen wir die Verfolgung auf.
    Wir brauchten nicht weit zu gehen; schon an der übernächsten Querstraße bog Mr Tatler ab. Es war eine jener hübschen Straßen mit niedrigen Einfamilienhäusern. Sie hatten Vorgärten, die mit Eisenzäunen umgeben waren, aber die Zäune waren so niedrig, dass man problemlos hätte drüberspringen können.
    Das brauchten wir zum Glück nicht. Das Zauntor der Tatlers quietschte, als er mit Schwung hindurchtrat. Im Umdrehen entdeckte er uns und ihm fiel auf der Stelle wieder ein, woher er uns kannte.
    »Oh, it’s you …!«, murmelte er und in der Sekunde, bevor er ein Lächeln aufsetzte, konnte ich deutlich erkennen, dass er nicht gerade begeistert war über das Wiedersehen.
    Er schien auch nicht vorzuhaben, uns ins Haus zu bitten. Nur zwei Schritte brauchte er, um zurück zum Tor zu kommen, aber es waren die langsamsten zwei Schritte, die ich je einen Mann hatte gehen sehen. Dann stand er vor uns. Seine Hose war verstaubt und mehrere große Schmutz- und Schweißflecken zierten sein Hemd.
    Ein wesentlicher Teil des Survival Plans , den Bekka und ich in Berlin ausgeheckt hatten, hatte darin bestanden, auf unvorhergesehene Situationen richtig zu reagieren und, wenn es nottat, augenblicklich auf einen neuen Plan umschwenken zu können. Dies war ein solcher Moment. Wir standen vor einer völlig veränderten Ausgangslage. Das letzte, wonach Mr Tatler jetzt zumute sein konnte, war eine weitere spontane Hilfeleistung!
    »Ich bin gekommen, um mich zu bedanken«, sagte ich rasch. »Eine meiner Cousinen und meine Freundin Bekka durften nach England ausreisen. Bekka wohnt sogar bei den Tanten Ihrer Frau. Ich habe einen Brief von ihr bekommen, sie ist sehr glücklich.«
    »Und ich wollte mich entschuldigen«, fiel Mischa ein, der zum Glück sofort begriff. »Mein Freund Benjamin darf nicht reisen, obwohl Sie sich für ihn bemüht haben. Es tut mir leid, es ist meine Schuld, ich habe nicht daran gedacht, dass seine Eltern vielleicht gar nicht wollen.«
    Mr Tatler sagte nichts. Mischa trat einen

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