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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dafür, daß sie mir nicht schon früher geantwortet habe.
    »Naoko hat die ganze Zeit damit gerungen, Ihnen zu schreiben, aber sie hat es einfach nicht geschafft. Mehrmals wollte ich Ihnen schon an ihrer Stelle schreiben und habe ihr gesagt, daß sie ihre Antwort an Sie nicht länger hinausschieben dürfe, aber Naoko fand die Sache so persönlich, daß sie Ihnen unbedingt selbst schreiben wollte. Deshalb mußten Sie so lange warten. Ich hoffe, Sie werden das entschuldigen.
    Gewiß war es sehr unerfreulich für Sie, einen Monat auf eine Antwort warten zu müssen, aber auch für Naoko war das ein sehr schwerer Monat. Bitte verstehen Sie das. Ehrlich gesagt, ihr Zustand gefällt mir gar nicht. Sie bemüht sich sehr, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, bisher leider ohne Erfolg.
    Im Nachhinein ist mir klar, daß eines der ersten Symptome der Verlust ihrer Fähigkeit war, Briefe zu schreiben. Das hat etwa Ende November, Anfang Dezember angefangen. Kurz darauf begann sie, Stimmen zu hören. Sooft sie einen Brief schreiben wollte, haben alle möglichen Leute zu ihr gesprochen und sie daran gehindert, die richtigen Worte zu finden. Bis zum Zeitpunkt Ihres zweiten Besuches war es noch nicht so schlimm, und ich habe diese Anzeichen, ehrlich gesagt, nicht besonders ernst genommen, denn bei uns allen treten die Symptome in sogenannten Schüben auf. Aber nach Ihrer Abreise verschlimmerten sie sich gravierend. Im Augenblick fällt es ihr sogar schwer, ein alltägliches Gespräch zu führen. Die Worte entgleiten ihr, und sie ist äußerst verstört. Verstört und verängstigt. Und die Stimmen, die sie halluziniert, werden ständig lauter.
    Wir haben täglich eine Sitzung mit einem Facharzt, während der wir zu dritt herauszufinden versuchen, was in ihrem Innern aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich habe den Vorschlag gemacht, daß Sie möglichst an einer unserer Sitzungen teilnehmen sollten, und der Arzt hat dem zugestimmt, aber Naoko war dagegen. ›Ich möchte ihm mit reinem Körper begegnen‹, hat sie als Grund angegeben, worauf ich versucht habe, ihr zu erklären, daß jetzt ein ganz anderes Problem im Vordergrund steht, nämlich das Problem, wie sie so schnell wie möglich ge sund werden kann. Doch obwohl ich sie sehr bedrängt habe, ist sie fest geblieben.
    Wie Sie inzwischen wissen, ist dies hier keine Spezialklinik.
    Natürlich gibt es Fachärzte und wirksame Behandlungsmethoden, aber eine intensive Spezialtherapie würde doch Schwierigkeiten bereiten. Das Ziel dieser Einrichtung ist es, dem Patienten wirksame Mittel zur Selbstheilung an die Hand zu geben, aber eine fachtherapeutische Behandlung ist hier nicht möglich. Sollte sich Naokos Erkrankung also verschlimmern, müßte sie wahrscheinlich in eine Spezialklinik oder in ein besonderes Sanatorium überwiesen werden. Für mich persönlich wäre das sehr schwer, aber es könnte sich als unvermeidlich herausstellen. Natürlich bedeutet das keineswegs, daß sie nicht sozusagen besuchsweise zu einer Behandlung hierher zurückkommen könnte. Oder – was noch besser wäre – völlig geheilt werden kann. Jedenfalls werden wir alles tun, was in unserer Macht steht, und Naoko auch. Hoffen Sie bitte weiter auf ihre Heilung und schreiben Sie ihr.
    31. März, Ihre Reiko Ishida«
    Nachdem ich den Brief gelesen hatte, blieb ich auf der Veranda sitzen und schaute in den Garten, in den der Frühling längst Einzug gehalten hatte und dessen alter Kirschbaum beinahe in voller Blüte stand. Es wehte eine Brise, und das milde Licht ließ die Farben seltsam verschwimmen. Möwe schlenderte heran und kratzte eine Weile an den Dielen der Veranda, worauf sie sich behaglich neben mir ausstreckte und einschlief.
    Eigentlich hätte ich jetzt nachdenken müssen, wußte aber nicht so recht wie. Um ehrlich zu sein, ich wollte nicht einmal nachdenken. Bald würde mir allerdings gar nichts anderes übrigbleiben, als nachzudenken, und erst dann wollte ich es ausgiebig und in aller Ruhe tun. Im Augenblick konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen.
    Ich verbrachte den Tag damit, auf der Veranda zu sitzen, Möwe zu streicheln und in den Garten zu schauen. Alle Kraft schien aus meinem Körper gewichen zu sein. Der Nachmittag verging, die Dämmerung kam, und bald senkte sich die bläuliche Dunkelheit der Nacht über den Garten. Möwe verschwand, aber ich betrachtete weiter die Kirschblüten. Im Abendlicht des Frühlings erschienen sie mir wie aufgeplatzte Haut, durch die sich

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