Naokos Laecheln
vorkam. Und wenn mir etwas Kritisches zu ihr durch den Kopf ging, dann konnte es nur daran liegen, daß ich neidisch und geistig verlottert war.«
Reiko schüttelte mehrmals den Kopf.
»Ich bilde mir ein, daß ich, wäre ich so schön und klug wie dieses Mädchen gewesen, ein normalerer Mensch geworden wäre. „Was kann man sich noch wünschen, wenn man so schön und intelligent ist? Warum sollte jemand, der von allen geliebt wird, andere, die schwächer sind, quälen und auf ihnen herumtrampeln? Welchen Grund kann es dafür nur geben?«
»Hat sie Ihnen denn etwas Schreckliches angetan?« fragte ich.
»Nun, sagen wir: dieses Mädchen war eine pathologische Lügnerin. Schlicht und einfach krank. Alles, was sie sagte, war erfunden. In der Sekunde, in der sie sich ihre Geschichten ausdachte, begann sie sofort, selbst an sie zu glauben. Und dann veränderte sie die Gegebenheiten um sich herum, um sie ihren Geschichten anzupassen. Natürlich kam einem das eine oder andere Detail unglaubwürdig oder zumindest sonderbar vor, aber weil sie so flexibel und verblüffend flink im Kopf war, drehte und wendete sie alles so, daß man nicht auf die Idee kam, sie könnte lügen. Zudem hätte auch niemand ernstlich vermutet, daß ein so reizendes Mädchen wegen jeder Kleinigkeit log. Mir ging es jedenfalls so. Sie belog mich ein halbes Jahr lang, bevor ich zum ersten Mal Verdacht schöpfte. Alles, was sie sagte, war von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Ich weiß, das klingt völlig verrückt.«
»Was log sie denn so?«
»Sie log nur.« Reiko lachte ironisch. »In allem. Wenn jemand einmal zu lügen beginnt, muß er sich immer mehr Lügen ausdenken, um die erste Lüge aufrechtzuerhalten. Man nennt das Mythomanie. Allerdings sind Mythomanen oft nicht besonders raffiniert, und die Menschen, die mit ihnen zu tun haben, entlarven ihre Lügen in der Regel. Aber in ihrem Fall war das anders. Um sich zu schützen, schreckte sie nicht davor zurück, anderen mit ihrer Lügerei großen Schaden zuzufügen. Sie setzte alles ein, was ihr zur Verfügung stand, und log mal mehr, mal weniger, je nachdem, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre Mutter oder enge Freunde, die sie sofort durchschaut hätten, belog sie fast nie, und wenn es doch sein mußte, nahm sie sich dabei sehr in acht. Wenn doch einmal etwas herauskam, strömten die Tränen nur so aus ihren schönen Augen, und sie entschuldigte sich mit einschmeichelnder, zerknirschter Stimme, so daß ihr niemand lange böse sein konnte.
Warum sie ausgerechnet mich auserkoren hatte, ist mir bis heute nicht klar. Ich weiß nicht einmal, ob ich zu ihrem Opfer oder zur Retterin ausersehen war. Natürlich kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an, wo alles vorbei ist. Und wo das hier aus mir geworden ist.«
Reiko verstummte für einen Moment.
»Die Tochter wiederholte, was die Mutter mir schon gesagt hatte. Daß sie von meinem Klavierspiel beeindruckt gewesen sei, als sie an unserem Haus vorbeiging. Sie habe mich auch ein paarmal gesehen und verehre mich. Sie gebrauchte tatsächlich das Wort ›verehren‹. Ich wurde knallrot. Ein Mädchen, hübsch wie eine Puppe, verehrte mich! Dabei glaube ich nicht einmal, daß das völlig aus der Luft gegriffen war. Natürlich war ich schon über dreißig, nicht so schön und intelligent wie sie und ohne besondere Qualitäten. Aber ich muß etwas an mir gehabt haben, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Wahrscheinlich etwas, das sie selbst entbehrte und das ihr Interesse an mir geweckt hatte. Ich sage das nicht, um mich zu brüsten, sondern weil es mir im Nachhinein so vorkommt.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
»Sie hatte Noten mitgebracht und fragte mich, ob sie mir etwas vorspielen dürfe. Spiel nur, sagte ich. Es war eine Invention von Bach. Ihr Vortrag war… interessant. Oder eher seltsam, jedenfalls nicht alltäglich. Ansonsten spielte sie natürlich nicht sehr gut. Sie hatte keine ordentliche Musikschule besucht und nur sporadisch Unterricht gehabt. Ihr Spiel klang ungelenk, und bei einer Aufnahmeprüfung für ein Konservatorium wäre sie sofort durchgefallen. Trotzdem war es auf irgendeine Weise hörenswert. Neunzig Prozent klangen fürchterlich, aber die restlichen zehn Prozent ließen sich hören – sie brachte es zum Singen, es war Musik. Schließlich ist eine Invention von Bach kein Kinderspiel! Meine Neugier war geweckt. Was es wohl mit diesem Mädchen auf sich hatte?
Natürlich wimmelt es auf der Welt nur so von Kindern,
Weitere Kostenlose Bücher