Naokos Laecheln
ließen wir uns scheiden. Oder vielmehr, ich ließ mich scheiden. Er hat vor zwei Jahren wieder geheiratet, und ich bin immer noch sehr froh über meinen Entschluß. Mir war klar geworden, daß mein Zustand sich niemals bessern würde, und ich wollte niemanden mit in mein Unglück hineinreißen. Niemand sollte gezwungen sein, in ständiger Angst vor meiner Krankheit zu leben.
Mein Mann war sehr gut zu mir gewesen. Ich hatte ihm vertrauen können, er war treu, stark und entschlossen, der ideale Ehemann. Er hatte sich mit aller Kraft um meine Heilung bemüht, und ich hatte alles dafür getan, um seinetwillen und um unseres Kindes willen. Sechs Jahre hatten wir eine glückliche Ehe geführt. Er hatte es zu neunundneunzig Prozent geschafft, aber das eine fehlende Prozent reichte, um mich in den Abgrund zu schieben. Peng ! Alles, was wir aufgebaut hatten, brach mit einem Schlag zusammen, alles wurde zunichte. Wegen dieses Mädchens.«
Reiko sammelte ihre ausgetretenen Kippen ein und warf sie in die Blechdose.
»Es ist eine entsetzliche Geschichte. Wir hatten uns solche Mühe gegeben, in kleinen Schritten etwas aufzubauen, und dann fiel mit einemmal alles in sich zusammen.«
Reiko stand auf und vergrub die Hände in ihren Hosentaschen.
»Gehen wir ins Haus. Es ist schon spät.«
Der Himmel war dunkler geworden, die Wolken hatten sich verdichtet, vom Mond war nichts mehr zu sehen. Jetzt nahm auch ich den Geruch nach Regen wahr. Er mischte sich mit dem Duft der Trauben in der Tüte, die ich trug.
»Darum kann ich nicht von hier fortgehen«, sagte Reiko. »Ich habe Angst davor, diese Umgebung gegen die Welt da draußen einzutauschen. Angst, neuen Menschen und neuen Gefühlen zu begegnen.«
»Das verstehe ich«, sagte ich. »Aber ich glaube trotzdem, daß Sie es könnten.«
Reiko lächelte, sagte jedoch nichts.
Naoko saß im Schneidersitz, die Hand an der Schläfe, auf dem Sofa und las. Ihre Haltung erweckte den Anschein, sie würde jedes einzelne Wort, das in ihren Kopf eindrang, betasten und sich seiner so vergewissern. Regentropfen begannen, auf das Dach zu trommeln. Wie feiner Staub umfing das elektrische Licht Naokos Gestalt. Als ich sie nach meinem langen Zwiegespräch mit Reiko wiedersah, wurde mir ganz neu bewußt, wie jung sie noch war.
»Entschuldige, daß es so spät geworden ist.« Reiko strich ihr übers Haar.
Naoko hob den Kopf. »War’s schön?« fragte sie.
»Natürlich«, antwortete Reiko.
»Was habt ihr beide denn gemacht?« fragte mich Naoko.
»Darf ich nicht verraten.«
Kichernd legte Naoko ihr Buch aus der Hand, und wir aßen unsere Weintrauben, während draußen der Regen rauschte.
»Wenn es so gießt, habe ich das Gefühl, wir drei wären allein auf der Welt«, sagte Naoko. »Ich wünschte, es würde immer so weiterregnen und wir drei könnten für immer zusammenbleiben.«
»Klar«, sagte Reiko. »Und während ihr beide euch amüsiert, fächere ich euch als eure arme schwarze Sklavin Kühlung zu oder klimpere Hintergrundmusik auf der Gitarre. Nein, danke.«
»Ach, ich würde ihn dir schon ab und zu leihen«, sagte Naoko lachend.
»Das wäre nicht schlecht«, erwiderte Reiko. »Herr, laß es regnen!«
Und es regnete. Von Zeit zu Zeit zerriß ein Donnerschlag die Luft. Nachdem wir die Trauben aufgegessen hatten, zündete sich Reiko eine Zigarette an, zog ihre Gitarre unter dem Bett hervor und begann zu spielen – Desafinado und Girl from Ipanema, dann ein paar Titel von Barachach und von Lennon/McCartney. Reiko und ich tranken wieder Wein, und als es keinen mehr gab, teilten wir den restlichen Brandy. Wir unterhielten uns in einer so gelösten und vertrauten Stimmung, daß auch ich mir wünschte, der Regen würde niemals aufhören.
»Kommst du mich wieder besuchen?« fragte Naoko und sah mich an.
»Natürlich«, sagte ich.
»Und schreibst du mir auch?«
»Jede Woche.«
»Auch ein paar Zeilen an mich?« bat Reiko.
»Sicher, gern«, erwiderte ich.
Gegen elf richtete mir Reiko wieder mein Bett auf dem Sofa. Wir sagten gute Nacht, löschten das Licht und gingen schlafen. Da ich nicht einschlafen konnte, holte ich meine Taschenlampe und den Zauberberg aus meinem Gepäck, um noch ein bißchen zu lesen. Kurz vor zwölf öffnete sich leise die Schlafzimmertür. Naoko kam heraus und kroch zu mir ins Bett. Im Gegensatz zu der vergangenen Nacht verhielt sie sich ganz natürlich. Ihr Blick war überhaupt nicht abwesend, und sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines normalen jungen
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