Naokos Laecheln
einschlafen.
Ich stellte mich ans Fenster und betrachtete eine Weile gedankenverloren den Fahnenmast. Im Dunkeln hatte der weiße Mast ohne die Flagge Ähnlichkeit mit einem riesigen Knochen. Was wohl Naoko gerade tat? Wahrscheinlich schlief sie. Schlief tief und. fest, in das Dunkel ihrer wundersamen kleinen Welt gehüllt. Hoffentlich träumt sie nichts Schlechtes, dachte ich noch.
7. Kapitel
Am Donnerstagmorgen hatten wir Sport, und ich schwamm mehrere Fünfzigmeter-Bahnen. Nach der körperlichen Anstrengung fühlte ich mich viel frischer und bekam sogar Appetit. Nachdem ich mir in einem Lokal, das für seine großen Portionen bekannt war, ein Mittagessen genehmigt hatte, war ich gerade unterwegs zur literaturwissenschaftlichen Bibliothek, als mir Midori Kobayashi über den Weg lief. Sie war in Begleitung eines zierlichen, bebrillten Mädchens, kam aber, als sie mich sah, allein auf mich zu. »Wo willst du gerade hin?« fragte sie mich.
»In die Fachbereichsbibliothek.«
»Laß das doch sausen und geh mit mir mittagessen.«
»Ich hab schon gegessen.«
»Na und? Dann ißt du eben noch mal.«
Schließlich entschieden wir uns für ein Café in der Nähe, wo sie ein Currygericht aß und ich nur Kaffee trank. Sie trug ein langärmliges weißes Hemd unter einer gelben Wollweste, in die ein Fisch eingestrickt war, eine dünne Goldkette und eine Disney-Uhr. Mit sichtlichem Genuß verspeiste sie ihr Currygericht und trank drei Gläser Wasser dazu.
»Du warst länger weg, oder? Ich hab x-mal bei dir angerufen«, sagte Midori.
»Wegen was Bestimmtem?«
»Eigentlich nicht, ich wollte dich nur mal anrufen.«
»Verstehe .«
»Und was verstehst du?«
»Nichts offenbar«, sagte ich. »Hat wieder mal was gebrannt?«
»Das war lustig, oder? Es gab ja keinen großen Schaden, aber der viele Rauch hat’s irgendwie gebracht. Klasse.« Midori schüttete noch ein Glas Wasser hinunter, rang kurz nach Luft und starrte mich an. »Was ist denn los mit dir? Du siehst irgendwie rammdösig aus. Dein Blick ist so verschwommen.«
»Ich bin gerade erst von einer Reise zurückgekommen und noch ein bißchen müde. Nichts Besonderes.«
»Du machst ein Gesicht, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Aha.«
»Hast du heute nachmittag Unterricht?«
»Deutsch und Religionswissenschaft.«
»Kannst du schwänzen?«
»Deutsch nicht. Wir schreiben einen Test.«
»Bis wieviel Uhr dauert die?«
»Bis zwei.«
»Wollen wir danach zusammen in die Stadt gehen und was trinken?«
»Um zwei Uhr nachmittags?«
»Warum denn nicht? Du siehst wirklich abgedreht aus. Komm doch, wir trinken was zusammen, das muntert dich auf – und mich auch. Ja?«
»Also gut«, sagte ich seufzend. »Geh’n wir einen trinken. Ich warte um zwei auf dich im Institut.«
Nach dem Deutschunterricht fuhren wir mit dem Bus nach Shinjuku und gingen in eine unterirdische Kneipe hinter der Buchhandlung Kinokuniya. Wir nahmen jeder einen Wodka Tonic.
»Hier komme ich öfter mal her«, sagte Midori. »Weil sie einem kein schlechtes Gewissen machen, wenn man schon nachmittags Alkohol bestellt.«
»Trinkst du oft am Nachmittag?«
»Na ja, manchmal.« Sie ließ das Eis in ihrem Glas klirren. »Wenn mir das Leben schwer wird, trinke ich hier einen Wodka Tonic.«
»Ist das Leben schwer für dich?«
»Ab und zu schon. Ich hab so meine kleinen Probleme«, sagte sie.
»Zum Beispiel?«
»Familienprobleme, schwierige Freunde, unregelmäßige Periode, so was eben.«
»Nimmst du noch einen?«
»Klar.«
Ich gab dem Kellner ein Zeichen und bestellte noch zwei Wodka Tonic.
»Sag mal, weißt du noch, wie du mich an dem Sonntag geküßt hast?« fragte Midori. »Ich habe oft daran gedacht, es war so schön.«
»Das freut mich.«
»›Das freut mich‹«, wiederholte Midori. »Wirklich sonderbar, wie du redest.«
»Findest du?«
»Egal, jedenfalls hätte ich es toll gefunden, wenn das mein erster Kuß gewesen wäre. Wenn ich mein Leben umarrangieren könnte, würde ich ihn unter allen Umständen zu meinem ersten Kuß küren, damit ich mich dann für den Rest meines Lebens fragen könnte, was wohl aus dem jungen Mann namens Watanabe geworden sein mag, von dem ich auf der Wäscheterrasse meinen ersten Kuß bekam – er müßte jetzt ungefähr achtundfünfzig sein. Fändest du das nicht auch toll?«
»Ganz toll«, sagte ich und knackte eine Pistazie.
»Ich frage dich jetzt noch mal: warum bist du so geistesabwesend?«
»Wahrscheinlich habe ich mich noch nicht wieder an
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