Naomi & Ely - die Freundschaft, die Liebe und alles dazwischen
aufrecht, räkelt sich, dann steht sie auf. Sie gibt mir meine Portiersjacke zurück. »Danke«, sagt sie, das ist alles. Die Schutzmauer ist wieder da. Ohne Abschied bewegt sie sich in Richtung Aufzug.
Wir können unmöglich wieder zu »Hallo« zurückkehren.
»Hey, Naomi«, rufe ich hinter ihr her.
Sie dreht sich um. »Ja?«
Wie kann ich wissen, ob ich zu viel frage, wenn ich sie das überhaupt nie frage?
Ich gehe zum Aufzug. Ich frage:
»Hast du von den Songs auf der CD, die ich für dich gemacht habe, welche gemocht?«
Die Aufzugtür öffnet sich. Ich trete hinein und winke ihr, mir zu folgen. Wenn irgendjemand was für die Reinigung abzugeben hat, dann kann das warten, bis ich wieder unten bin. Ich drücke auf den Knopf: 15. Stock.
»Ich mag das Lied von Kirsty MacColl sehr«, sagt sie, während der Aufzug nach oben fährt. »Ich hab sie vorher gar nicht gekannt, erst durch deinen Song, aber er hat mir so gut gefallen, dass ich mir gleich eine CD von ihr besorgt habe.«
Bingo, wie die Bewohner hier im Apartmenthaus so gerne rufen. Wenn ich den Song hätte nennen sollen, von dem ich mir gewünscht habe, dass er ihr auf der ganzen Playlist am besten gefällt, dann wäre es der Song von Kirsty MacColl gewesen.
»Welche CD von ihr hast du dir gekauft?«
»Ich hab sie mir nicht gekauft. Susan hat sie für mich aus Elys Sammlung >ausgeliehen<.« Naomi legt den Zeigefinger an den Mund. »Schsch, nicht weitersagen. Und weißt du was? Du und Susan. Ihr mögt beide Cowboy-Songs.«
»Woher weißt du, dass ich Cowboy-Songs mag?«
»Was ist mit dem Jodel-Song auf dem Mix? >Blue Yodel«
Naomi hat sich die Stücke wirklich angehört.
Ein gewisses Potenzial ist also vorhanden. Ihr Musikgeschmack lässt sich verbessern. Das spüre ich.
Naomi kichert und sagt: »Bevor du Susan bei den Pokerrunden mit den Schlaflosen in der Eingangshalle weiter ihre Vierteldollar abknöpfst, solltest du wissen, dass du damit ihren geheimen Geldvorrat für den Kauf von Cowboy-Songs gefährdest.«
»Was für Songs denn?« Ich will es wirklich wissen. Hof fentlich kann Naomi meine Frage beantworten.
Sie zuckt die Schultern. »Irgend so ein Typ. Marty Soundso.«
Ziemlich nah dran.
»Marty Robbins?«, frage ich. Der Lieblings-Song-Lieferant für meinen Vater, wenn er unter der Dusche seine Arien schmettert.
»Ja, genau der! Susan hat uns seine Cowboy-Songs immer vorgesungen, wenn sie uns ins Bett gebracht hat.«
»Und was war dein Lieblingslied?«
»Ich glaub, es hieß >Big Iron<. Wenn Susan dann zu der Stelle kam, wo es um ein >großes Eisen an der Hüfte< geht, hat sie immer eine Bewegung gemacht, als würde sie bügeln und nicht als würde sie eine Smith & Wesson ziehen. Ich glaub, ich hab erst mit zwölf begriffen, dass ein Eisen eine Knarre ist und kein Bügeleisen.«
Die Aufzugstür öffnet sich und Naomi geht hinaus.
Ich erkläre ihr nicht, dass sie und Ely einfach nur kleine Kinder waren, wie Geschwister, als Susan sie gemeinsam ins Bett gebracht hat. Dass es da nichts zurückzuwünschen gibt.
»Gute Nacht, Naomi«, sage ich, während ich auf den Knopf drücke, gleich wird mich der Aufzug zurück in die Eingangshalle befördern. »Sweet Dreams!«
»Patsy Cline?«, sagt sie, als die Tür sich zwischen uns schließt.
Bruce der Zweite
SHOWTIME
»Heute«, sagt Ely, »gehen wir zur Drag-Queen-Version von Lilith Fair.«
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Außer dass er Drag Queen gesagt hat. Was ausreicht, um mich in Alarmbereitschaft zu versetzen.
Wir sind in seinem Zimmer. Er zieht ein rosa Hemd an. Rosa Krawatte. Er tuscht sich die Wimpern. Meine Erfahrungen mit Make-up beschränken sich auf verschmierten Lippenstift auf der Backe, wenn eine meiner Großmütter mich früher geküsst hat.
»Das wird großartig«, sagt er. »Eine der Drag Queens imitiert Aimee Mann und nennt sich - tja, sie nennt sich Aimee Man, halt mit nur einem n. Und dann spielen da Fiona Adamsapfel und Sheryl Crowsam und Natalie Merchant-of-Penis. Reimt sich auf Venice. Natürlich eine Anspielung.«
Natürlich.
Die Wahrheit? Die Wahrheit ist, und ich kann es kaum fassen, dass ich das tatsächlich denke: Wir sollten es jetzt sofort miteinander machen. Seine beiden Mütter sind bei ihrem Lesekränzchen. Wir haben die Wohnung für uns allein. Es ist nicht wie bei mir im Studentenwohnheim, wo man jeden Schritt auf dem Flur hören kann und dauernd darauf gefasst sein muss, dass irgendjemand kommt und an die Tür klopft. Wie gestern Abend,
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