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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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behauptet sie jedenfalls. Das Geständnis kam unmittelbar, nachdem sie mir ihre Gefühle für dich offenbart hatte, und dann wollte sie wissen, ob sie meiner Ansicht nach gut genug für dich ist.«
    »Gut genug für mich? - Sie erinnert mich an ein Mädchen auf meiner Oberschule. Die dachte auch, ich sei wundervoll, und dann ging sie ins Kloster.«
    Er konnte sich nicht mehr beherrschen und rieb sich heftig das Gesicht.
    »Schulball in Hoosierville. Ich war achtzehn und wußte seit zwei Jahren, daß ich schwul war. Ich hatte nur niemanden, dem ich es sagen konnte. Sie hieß Nancy Squires, und als sie mich fragte, ob ich als ihr Partner mit ihr zum Ball gehen würde, sagte ich ja, weil ich ihr nicht weh tun wollte. Sie war hübsch, der dünne, blasse, zerbrechliche Typ. Sie schrieb Gedichte, sammelte Porzellanfigürchen und gab den Jungs Nachhilfe in Mathematik. Die anderen Mädchen behandelten sie wie eine Aussätzige. Man konnte gut mit ihr reden. Sie war eine richtige Dame - bis ich sie nach dem Ball nach Hause fuhr. Sie fing an, an mir herumzufingern, und sagte, sie liebe mich. Ich war damals schon ein Schlaukopf, also sagte ich, ich wäre gern ihr Freund, aber lieben könnte ich sie nicht. Ich sagte ihr auch, warum. - Eine Weile lang war sie still. Sie ließ mich los und schaute mich an, als sei ich die größte Enttäuschung in ihrem achtzehnjährigen Leben. Sie hatte es nicht leicht zu Hause. Ihre Familie war ein Haufen Arschlöcher: zwei Brüder im Knast, der Vater ein besoffener Drecksack, der sie ab und zu verprügelte oder wer weiß was mit ihr machte. - Ich war ihre einzige Hoffnung.«
    Er rieb sich die Augen.
    »Dann schüttelte sie den Kopf, sagte: ›Milo, du wirst in die Hölle kommen‹ - nicht wütend, eher mitleidig - und stieg aus.
    Danach habe ich sie nie mehr gesehen. Eine Woche später verschwand sie in einem Konvent in Indianapolis, und vor fünf Jahren schrieb mir meine Mutter, Nancy wäre in El Salvador ums Leben gekommen, erschossen, zusammen mit anderen Nonnen, beim Wäschewaschen an einem Fluß.«
    »Und Lucy erinnert dich an sie?«
    »Sie könnten Schwestern sein, Alex. Die Art, wie sie sich bewegt, die Verletzlichkeit.«
    »Lucys Verletzlichkeit verstehe ich inzwischen besser, nachdem ich mehr über ihre Kindheit erfahren habe. Die Mutter starb kurz nach ihrer Geburt. Der Vater ließ die Familie im Stich. Im Grunde ist sie als Waisenkind aufgewachsen.«
    »Ja, ich weiß. Einmal, als wir über Schwandt sprachen, meinte sie, er hätte noch beide Elternteile, ein schönes Zuhause, der Vater Rechtsanwalt - was wäre also seine Entschuldigung? Ihr eigener Vater wäre ein Nichtsnutz.«
    »Hat sie dir erzählt, wer ihr Vater ist?« Er schaute mich fragend an.
    »Morris B. Lowell.«
    Er starrte mich an und kühlte sich die Hände an seinem Bierglas. »Was soll das? Hast du noch mehr solche Überraschungen für mich? Meinst du, der Morris B. Lowell?«
    »Kein anderer.«
    »Unglaublich. Lebt der noch?«
    »Er haust im Topanga Canyon. Er zog nach L. A., als seine Karriere im Eimer war.«
    »Ich habe in der Schule Sachen von ihm gelesen.«
    »Das hat jeder.«
    »Und sie ist seine Tochter? Unfaßbar.«
    »Du kannst dir vorstellen, welchen Einfluß er auf sie haben muß, selbst aus der Ferne. Kein Wunder, daß sie sich nach einer positiven Autoritätsfigur sehnt. Deine Theorie über den großen Bruder ist vielleicht gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.«
    »Wunderbar. Und jetzt noch eine Enttäuschung. Was soll ich tun? Soll ich sie besuchen oder besser nicht?«
    »Laß uns abwarten, wie sie sich in den nächsten Tagen macht.«
    »Okay. - Hast du eine Ahnung, was sie dazu gebracht haben könnte?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Sie war bedrückt, ja, aber nichts, was auf einen Selbstmordversuch hingedeutet hätte.«
    »Bedrückt wegen mir?«
    »Das spielte sicherlich eine Rolle, aber wir waren auch zu anderen Dingen vorgestoßen - ihrer Zeit als Prostituierte, den Gefühlen ihrem Vater gegenüber und diesem Traum, von dem sie dir erzählt hatte. Darüber wollte ich auch noch mit dir reden.«
    Ich beschrieb ihm die Traumszene mit dem Begräbnis des jungen Mädchens.
    »Die Träume begannen nach deiner Aussage über Carrie. Ich vermute, die grauenhaften Details, die du vor Gericht ausbreiten mußtest, legten lange verschüttete Gefühle in ihr frei, Gefühle in Zusammenhang mit ihrem Vater, die sie in eine Opferrolle versetzten. Seine letzten Gedichte sind auf gemeine Art frauenfeindlich. Lucy

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