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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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könnte sie gelesen und überreagiert haben. Das letztemal, als wir über den Traum sprachen, sagte sie, sie hätte empfunden, daß ihre Seele in den Körper des dunkelhaarigen Mädchens überging - als ob sie mit beerdigt würde. So weit identifizierte sie sich mit dem Opfer. Und nach dem, was ihr Halbbruder mir heute morgen erzählt hat, könnte noch mehr dahinterstecken. Sie behauptet, sie hätte ihr Leben lang keinen Kontakt mit Lowell gehabt, doch der Bruder sagt, sie hätte vor einundzwanzig Jahren den Sommer bei ihrem Vater in Topanga verbracht. Alle vier Kinder waren dort. Lucy war damals genau in dem Alter, in das sie der Traum zurückversetzt. Und es gibt Blockhäuser auf dem Grundstück, genau wie sie beschreibt. - Andererseits stand das alles in den Zeitungen, als die Anlage eröffnet wurde, inklusive einer Beschreibung der Architektur. Ich habe mir die Artikel herausgesucht; das gleiche könnte sie auch getan haben. Oder ihr Bruder Peter hat ihr davon erzählt. Er hat ein bißchen in der Familiengeschichte geforscht und ihr seine Erkenntnisse mitgeteilt. Jedenfalls streitet sie rundum ab, je dort gewesen zu sein. Oder sie erinnert sich wirklich nicht, vielleicht weil etwas Schreckliches passiert ist.«
    »Zum Beispiel, daß der Vater etwas mit ihr angestellt hat?«
    »Wie gesagt: Seine letzten Gedichte waren voller Haß auf alles Weibliche. Wenn er sie mißbraucht hat, dann ist klar, warum der Prozeß mit seiner Vermischung von Sex und Gewalt die Erinnerung in ihr wachgerufen hat. Sicher ist, daß sie ein gewaltiges Problem hat. Deshalb das ständige Wiederkehren des Traumes und seine Intensität - wenn sie davon erzählt, scheint sie ihn zu durchleben, wie in Trance, wie unter Selbsthypnose. Für mich heißt das, daß ihr Ego zu verschwimmen beginnt. Es ist etwas Machtvolles im Gange. Vielleicht hätte ich deshalb vorsichtiger sein sollen, obwohl sie nicht unter Depression litt und es kein Anzeichen von Selbstmordgefahr gab.«
    »Was ist mit den anderen Männern in ihrem Traum?«
    »Entweder ist das reine Phantasie, oder es waren mehrere Männer beteiligt bei dem, was ihr zugestoßen ist. Ein möglicher Kandidat wäre zum Beispiel einer von Lowells Schützlingen, Terry Trafficant, ein Gewohnheitsverbrecher: versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung, Totschlag. Er saß fast ununterbrochen im Gefängnis, bis Lowell ihm zur Begnadigung und zur Veröffentlichung seines Gefängnistagebuches verhalf. Es war ein Bestseller.«
    »Ich war damals noch im College, aber ich erinnere mich, was ich davon gehalten habe - Blödsinn.«
    »So haben eine Menge Leute gedacht, vor allem der Polizist, der ihn nach dem Totschlag festgenommen hatte. Es gab einen Skandal, und Trafficant verschwand von der Bildfläche. Wenn man einen Kerl wie ihn nach Jahren Gefangenschaft im Wald im Topanga Canyon mit einem süßen kleinen Mädchen zusammenbringt - wer weiß, was dann passiert.«
    Er verzog das Gesicht. »Steht etwas von Pädophilie in Trafficants Strafregister?«
    »Ich kann mich nicht erinnern, das gelesen zu haben, aber ein Typ wie er hätte wahrscheinlich nicht viele Hemmungen, was Sex mit Kindern anbelangt.«
    »Mag sein. Die andere Möglichkeit ist, daß ihr selbst gar nichts zugestoßen ist, daß sie nur etwas gesehen hat. Vielleicht nicht mal eine Gewalttat, sondern nur hemmungsloses Bumsen, eine Orgie. Ein junges Mädchen und drei Kerle - würde das ein Kind von vier Jahren nicht traumatisieren? Könnte das Geräusch, von dem sie spricht, nicht genau das gewesen sein, für das sie es instinktiv gehalten hat, vor allem, wenn in ihrem Kopf Sex und Gewalt durcheinandergehen ?«
    »Das ist sicher möglich. Ihr Halbbruder sagt, die Kinder wären zur Zeit der Eröffnungsparty auf dem Gelände gewesen. Den Zeitungen nach muß es ein ziemlich wildes Fest gewesen sein. In ihrem Traum hört Lucy Lärm und sieht Lichter, sobald sie die Blockhütte verläßt. Ja, sie könnte etwas gesehen haben, was nichts für Kinder ist.«
    »Und der Vater kräftig mit dabei. Er und zwei Freunde mit einem Mädchen…«
    »Oder sie hat wirklich ein Verbrechen beobachtet, und die Erinnerungen daran sind während des Schwandt-Prozesses an die Oberfläche gekommen. Vielleicht hat sie ein unterbewußter Drang, ein Verbrechen zu sühnen, dazu getrieben, sich als Geschworene zur Verfügung zu stellen, und die Staatsanwaltschaft hielt es für innere Stärke.«
    »Möglich«, räumte Milo ein.
    »Trafficant war ein verurteilter Vergewaltiger und

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