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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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und her. Sie war regungslos, bis auf das Heben und Senken der Brust mit jedem Atemzug.
    »Lucy, wenn Sie mich hören können, heben Sie den rechten Zeigefinger.«
    Nichts. Ich nahm ihre Hand: schlaff. Ich drehte ihren Kopf:
    kein Widerstand.
    »Lucy?«
    Ihre Augäpfel rollten wild unter den Lidern. Dann hörte auch das auf.
    Schlaf: die letzte Abwehrlinie.
    Ich ließ ihre Hand sinken und paßte auf, daß sie nicht vom Stuhl rutschte.
    Sie schlummerte eine Weile, dann begann sie zu zucken und das Gesicht zu verziehen. Sie zog Grimassen und grunzte. Zusammen mit der Augapfelbewegung waren das typische Alptraumsymptome.
    Ich streichelte ihre Hand, redete beruhigend auf sie ein, und sie fiel wieder in ruhigen Schlaf.
    Augenblicke später dasselbe Zucken, dieselben Symptome. Nach zwei weiteren solchen Episoden sagte ich: »Wachen Sie auf, Lucy.«
    Es dauerte eine Minute, bis sie sich aufrichtete, die Augen öffnete und in meine Richtung schaute, ohne mich zu sehen. Dann klappten die Lider wieder zu, und ihr Körper erschlaffte.
    Ich versuchte noch einmal, sie zu wecken, indem ich sie sanft schüttelte, doch jedesmal, wenn sie die Augen öffnete, war es nur für kurze Zeit.
    Schließlich gelang es mir, sie zurückzuholen. Sie blinzelte und glotzte, murmelte etwas und rieb sich die Augen.
    »Was ist passiert?«
    »Sie sind eingeschlafen.«
    »Wirklich?« Sie gähnte.
    »Sie haben fast eine halbe Stunde geschlafen.«
    »Ich - wir - wir hatten doch mit der Hypnose angefangen, oder? Das habe ich doch nicht geträumt?«
    »Nein, wir waren bei einer Hypnose.«
    »Und? Hat es funktioniert?«
    »Ja. Sie waren ganz nah dran.«
    »Habe ich etwas gesagt?«
    »Nein, Sie sind eingeschlafen.«
    Sie reckte sich. »Ich fühle mich erholt. War das so gedacht, daß ich einschlafe?«
    »Es war unvermeidlich.«
    »Und ich habe nichts gesagt?«
    »Nein, aber wir sind erst am Anfang. Sie haben sich gut geschlagen.«
    »Sie meinen, ich bin ein gutes Medium?«
    »So würde ich es nicht ausdrücken, aber Sie sprechen sehr gut an.«
    Sie lächelte. »Mal sehen, wie es sich entwickelt… Ich fühle mich jedenfalls ganz prächtig. Hypnose ist toll. Sie sollten das auch mit Ken machen.«
    »Warum sagen Sie das?«
    »Er hat es zur Zeit sehr schwer. Seine Exfrau quält ihn. Sie versucht, ihn zu schröpfen, und läßt ihn nicht zu den Kindern, obwohl er Besuchsrecht hat.«
    »Seit wann ist er geschieden?«
    »Seit einem Jahr. Ich habe das Gefühl, sie hatte eine Affäre, obwohl er es nicht direkt gesagt hat. Vor mir läßt er sich nichts anmerken, doch ich glaube, es macht ihm ziemlich zu schaffen. Letzte Nacht habe ich ihn zweimal aufstehen hören, und als ich heute morgen um halb sechs herunterkam, saß er angezogen in der Küche über irgendwelchen Papieren.«
    »Er scheint viel zu arbeiten.«
    »O ja. Er hat gleich nach dem College mit Immobilien angefangen und sich vom Büroangestellten hochgearbeitet. Doch es kostet seinen Preis. Er hat eine Dose Magenpillen im Aktenkoffer. - Sind wir nicht eine glückliche Familie?«
    Sie schloß die Augen und legte den Kopf zurück.
    »Seltsam, während wir so plaudern, beginne ich mich an Sachen zu erinnern, an Kleinigkeiten, wie Mosaiksteinchen… Dieser Sommer in Kalifornien - ich sehe Licht, wie ich meine Hand durch ein Stück Stoff schiebe. Ich kann es nicht erklären, aber es ist kein schlechtes Gefühl.«
    »Was sehen Sie noch?«
    »Nichts Bestimmtes, lauter Kleinigkeiten, Bruchstücke - wie Worte, die einem auf der Zunge liegen, als ob sich ein Vorhang allmählich öffnet, aber nicht genug, daß ich etwas erkennen könnte.« Sie öffnete die Augen. »Das ist alles. Doch allmählich gewöhne ich mich an die Vorstellung, daß etwas passiert ist und ich mich nicht daran erinnern kann. Es ist, als käme ich meiner eigenen Geschichte auf die Spur.«
    Ich dachte an das Kindermädchen, das Ken erwähnt hatte, und überlegte, sie danach zu fragen, doch ich entschied mich dagegen. Es war genug für den ersten Tag.
    »Wann fahren wir fort?« fragte sie.
    »Wir könnten uns morgen treffen. Um vier bei mir?«
    »Wunderbar.«
    »Im übrigen gehe ich davon aus, daß es Ihnen nicht recht wäre, wenn ich Lowells Einladung annähme.«
    Ich erwartete eine schnelle Reaktion, doch sie legte einen Finger auf die Lippen und dachte nach. »Der einzige Grund, mit ihm zu reden, wäre herauszufinden, was er im Schilde führt. Vielleicht sollte ich das selber machen.«
    »Das hielte ich für ein bißchen viel im Moment. Wenn Sie

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