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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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»Haarige Lippe.«
    »Nur auf der Lippe?« Es führte zu nichts.
    Als sie aufwachte, rekapitulierte ich, was sie mir erzählt hatte.
    »Ich war nicht sehr gut heute, nicht wahr?«
    »Darum geht es nicht. Es ist schließlich keine Zirkusvorstellung.«
    Sie tippte sich an die Stirn. »Ich bin sicher, es ist alles hier drin. Warum kann ich es nicht hinauslassen?«
    »Vielleicht ist wirklich nicht mehr da. Sie betrachten die Szene mit den Augen einer Vierjährigen. Bestimmte Begriffe sind Ihnen da nicht zugänglich.«
    »Aber da ist mehr: Da war etwas mit den Bäumen, zwischen denen sie verscharrt wurde. Mir fiel etwas auf an den Bäumen, aber ich sagte nichts, weil Sie mich nicht danach fragten und weil ich nicht die Worte fand, es zu beschreiben.« Sie schloß die Augen. »Ich sehe es wieder vor mir. Die Bäume sehen aus wie wunderschönes grünes Spitzengeflecht.«
    »Was sind es für Bäume?«
    »Das kann ich nicht sagen.«
    »Sie wissen nur, daß sie wie Spitzen aussehen.«
    »Ja, und wunderschön, wie…« Sie öffnete die Augen. »Es stimmt, was Sie eben gesagt haben. Das Wort ›Spitzen‹ kannte ich mit vier noch nicht; ich konnte nicht ausdrücken, was ich sah, aber jetzt, als Erwachsene, erkenne ich es. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
    »Ja.«
    »Mehr kann ich nicht sagen. Hätten Sie morgen Zeit für mich?«
    »Morgen früh?«
    »Wann es Ihnen recht ist. Ich habe sonst nichts zu tun, nur alte Illustrierte lesen und fernsehen. Allein in dem großen Haus fühle ich mich viel einsamer als in meiner Wohnung.«
    »Ken ist meistens weg, nicht wahr?«
    »Fast immer. Wir haben uns vorgenommen, am Wochenende mehr Zeit miteinander zu verbringen. Vielleicht fahren wir irgendwohin.«
    Ihre Hände waren in ständiger Bewegung.
    »Der dritte Mann dreht mir die ganze Zeit den Rücken zu. Es ist frustrierend. Und von dem anderen sehe ich nur den Bart.«
    Ich holte Trafficants Buch und zeigte ihr sein Foto auf dem Umschlag.
    »Das kenne ich - furchtbarer Schund, fast so schlecht wie die sogenannte Poesie, die Lowell verzapft hat. Aber das Foto - nein, das ist er bestimmt nicht, tut mir leid. Der Bart in meinem Traum ist ein Schnurrbart, groß, dicht und dunkel.«
    Sie legte das Buch weg.
    »Könnten Sie ihn so beschreiben, daß jemand eine Zeichnung anfertigen könnte?«
    Sie schloß wieder die Augen und schaute in sich. Es schien ihr große Mühe zu bereiten. »Ich sehe ihn, aber ich kann ihn nicht beschreiben. Ich kann einfach nicht in Worte übersetzen, was ich sehe - als ob ein Teil meines Gehirns nicht richtig funktionierte.«
    Sie öffnete die Augen. »Ich glaube, ich würde ihn erkennen, wenn er vor mir stünde, aber so kann ich nicht mehr sagen, als daß er einen Schnurrbart hat. Es ist kein richtiges Sehen; es sind eher Bilder, die sich in mein Bewußtsein vorkämpfen. Das klingt blödsinnig, nicht wahr? Vielleicht ist alles nur Blödsinn.«
    »Wir nehmen es einfach, wie es kommt, Lucy.«
    »Aber ich will es wissen - um Karens willen.«
    »Möglicherweise hat Karen gar nichts zu tun mit Ihrem Traum.«
    »Doch, das hat sie«, sagte sie schnell, »ich fühle es. Ich weiß, das klingt wieder, als ginge die Phantasie mit mir durch, aber das ist es nicht. Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Warum sollte ich mir wünschen, von ihm zu träumen?«
    Ich antwortete nicht.
    »Also, wir nehmen es, wie es kommt. Haben Sie heute Ihr Treffen mit ihm?«
    »Ja, um eins.«
    Sie kratzte sich am Knie.
    »Machen Sie sich Gedanken darüber?«
    »Ja, ein wenig.«
    »Soll ich es abblasen?«
    »Nein… zugegeben, ich bin ein bißchen nervös, aber warum eigentlich? Sie müssen mit ihm zusammentreffen, nicht ich.«
    Ich verließ das Haus um halb eins, fuhr die Küstenstraße entlang bis zu einer Reihe roter Baracken, dann bog ich ab, die Topanga-Canyon-Straße hinauf.
    Ich kam zu der Gabelung, wo die neue, ausgebaute Piste ins Tal abzweigte, und blieb auf der alten Canyonstraße, die ich von nun an ganz für mich allein hatte. Über die nächsten Kilometer wurde es dunkler, grüner und kühler im Schatten von Feigenbäumen, Ahorn, Weiden und Pappeln über dem rauhen schwarzen Asphaltband. Alle fünfzig oder hundert Meter standen bescheidene, meist eingeschossige Häuser an hellgrünen Lichtungen.
    Wunderschönes grünes Spitzengeflecht…
    Ich fuhr an den Straßenrand und schaute auf den Zettel, auf dem ich die Anweisungen notiert hatte, die die Frau mir gegeben hatte.
    Eine Privatstraße, fünf Kilometer nach der Brücke, mit einem

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