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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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fragte ihn, ob er noch etwas brauchte. Er antwortete nicht, und sie verließ die Halle.
    Zuerst starrte er mich nur an. Ich erwiderte seinen Blick und versuchte freundlich-neutral auszusehen.
    »Junge, bist du hübsch. Wenn ich schwul wäre, würde ich dir sofort einen Antrag machen.«
    »Da müßte ich Sie abblitzen lassen.«
    Er warf den Kopf zurück und lachte, daß die schlaffen Wangen flatterten. Ich bemerkte, daß er noch fast alle Zähne hatte, zumindest die schwarz-braunen Stümpfe davon.
    »Was ist das in deinem Glas?«
    »Tonic.«
    Er verzog angeekelt den Mund. »Stell das weg und paß auf. Mir tun alle Knochen weh; ich habe keine Zeit für billigen Yuppiekram.«
    Ich stellte das Glas auf den Tisch.
    »Also, sag mir, wer du bist und was dich dazu qualifiziert, meine Tochter zu behandeln.«
    Ich nannte ihm kurz meine Referenzen.
    »Sehr eindrucksvoll. Aber wenn du so verdammt clever bist, warum bist du dann kein richtiger Doktor geworden?«
    »Und warum sind Sie keiner geworden?«
    Er klammerte sich an die Armlehnen und brachte sich in Positur, bevor er mich mit Flüchen bedeckte. »Was bildest du dir ein, mir von oben herab zu kommen? Aber mach schon, trample auf mir herum. Ich verdaue alles und scheiße es als hochkonzentrierten Dung wieder aus.«
    Er leckte sich die Lippen und versuchte zu spucken, doch es kam nichts heraus. Er atmete schwer.
    »Delaware… du bist doch kein Judenjunge, oder?«
    »Nein, auch kein Nigger, Itaker oder Chilifresser.«
    Sein Mund zuckte, und er lachte, doch es sah aufgesetzt aus.
    »Sieh mal an: ein Schlauberger. Ein verdammter Halbidiot von einem Yuppie-Schlauberger. Unsere Zukunft: Nadelstreifen von C&A. Karrieristen als Moralapostel verkleidet, politisch korrekt. Fährst du ‘nen BMW - oder ‘nen Baby-Benz?«
    Ich dachte an das weiße Kabrio vor seiner Tür und sagte:
    »Ich fahre ein amerikanisches Auto.«
    »Wie patriotisch. Hast du den von deinem Papi geschenkt bekommen?«
    Ich antwortete nicht. Ich sah meinen Vater vor mir, der sich nie in seinem Leben ein neues Auto hatte leisten können.
    »Papi ist tot, nicht wahr? War er auch so ein Möchtegern-Doktor wie du?«
    »Er war Fabrikarbeiter.«
    »Na sieh mal: ein Held der Arbeiterklasse. Der erste in der Familie, der zur Universität geht, mit Stipendium und all dem Scheiß, und Mutti ist so stolz auf ihn - oder ist Mutti auch schon tot?«
    Ich stand auf und ging zur Tür.
    »Ach!« brüllte er mir nach. »Jetzt hab ich ihn beleidigt. Fünf Minuten hier, und schon muß er raus, hinter die Büsche kotzen. Die Ausdauer einer Eintagsfliege!«
    Ich drehte mich um und lächelte. »Nein, ganz und gar nicht. Ich finde es einfach langweilig. In Ihrem Zustand sollten Sie wissen, daß das Leben zu kurz ist, um es zu verquatschen.«
    Er glühte vor Wut. »Arschloch! Zur Hölle mit dir und deiner verdammten Mutter! Wenn du jetzt gehst, brauchst du nie wiederzukommen, und du kannst Scheiße fressen, bevor ich dir was erzähle.«
    »Was könnten Sie mir schon erzählen?«
    »Ich weiß, warum das Mädchen versucht hat, sich umzubringen.«
    Er rollte langsam vor und nahm Schwung, um den Rollstuhl zu wenden. Sein Haar klebte in fetten Strähnen zusammen. Entweder taugte Nova nicht viel als Pflegerin, oder er ließ kein Wasser an sich heran.
    »Mach mir was zu trinken, dann teile ich vielleicht ein paar Weisheiten mit dir. Und steh nicht da und schau drein wie ein Matrose, der zum erstenmal ein Puff von innen sieht. Hör auf, mich zu langweilen, und mix mir was Kräftiges, bevor ich dich rausschmeiße.«
    Ich ging an die Bar und fand eine fast leere Flasche Chivas. Während ich die Hälfte von dem Rest in ein Glas schüttete, fragte er: »Kannst du lesen?«
    Ich hatte nicht vor, ihm darauf zu antworten, doch er redete sowieso weiter.
    »Hast du je etwas von mir gelesen?«
    Ich sagte ein paar Titel auf, an die ich mich erinnerte.
    »Mußtest du auch Klassenarbeiten darüber schreiben?«
    »Ja, das kam vor.«
    »Was für Noten hast du bekommen?«
    »Meistens Einsen.«
    »Dann hast du kein Wort verstanden.«
    Er kippte den Whisky hinunter und hielt mir das Glas hin. Ich füllte nach. Für die zweite Portion brauchte er länger. Er nippte, hob ein Bein und furzte genüßlich. Ich verglich ihn unwillkürlich mit den mannhaften Helden in seinen Romanen und verstand zum erstenmal, was das Wort »Fiktion« bedeutet.
    Er versuchte, das Glas wegzuwerfen, doch er war zu schwach. Es landete direkt neben ihm und rollte über den Teppich.
    »Die

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