Narben
fahren und die Wahrheit herausfinden.«
»Wieso denken Sie, das sei der einzige Weg?«
»Wenn ich nicht fahre, finde ich gar nichts heraus. Er ist ein verkrüppelter alter Mann. Was kann er mir schon antun?«
»Er weiß mit Worten umzugehen.«
»Na und? Er ist eben Schriftsteller. Das ist das einzige, was er kann.«
»Er will Sie vielleicht sehen, weil er dem Tod ins Auge sieht. Ich habe das schon oft erlebt, Lucy. Eltern, die ihre Kinder ihr Leben lang mißhandelt oder sich nie um sie gekümmert haben, wünschen eine Beziehung herzustellen, bevor sie sterben. Sie müssen sehr vorsichtig sein, was Ihre eigenen Gefühle angeht. Was wäre zum Beispiel, wenn Sie äußerste Grausamkeit erwarten und er plötzlich ganz sanft zu Ihnen ist?«
»Damit würde ich fertig. Ich bin ihm nichts schuldig. Wenn er lästig wird, schlafe ich einfach ein. Ich weiß, es klingt furchtbar, aber das würde ihm mit Sicherheit klarmachen, was ich von ihm halte.«
Wir setzten die Hypnose fort. Ich führte sie zu der Zeit zwei Tage vor der Sanktum-Party zurück. Trotz meiner Versuche, den Effekt mit Hilfe der Bildschirmtechnik abzufedern, sprach sie mit Kinderstimme und murmelte über Bäume, Pferde und einen »Bruda«. Fragen über ein Kindermädchen oder eine Babysitterin beantwortete sie mit verwirrten Blicken und einem erhobenen linken Zeigefinger.
Weitere Fragen offenbarten, daß mit »Bruda« Peter gemeint war, den sie in ihrer Trance »Peti« nannte.
Peti spielte mit ihr. Peti warf ihr einen Ball zu. Sie schauten sich Marienkäfer an. Sie lächelte, als sie davon sprach, doch dann schien sie an etwas anderes zu denken und runzelte die Stirn.
»Was siehst du, Lucy?«
Ich brachte sie vorwärts, zum Sonntag nach der Party. Sie erinnerte sich an nichts. Also ging ich zurück zum Samstag abend.
Diesmal blieb sie ganz ruhig auf ihrem Waldspaziergang. Nicht einmal die Angst im Gesicht der jungen Frau regte sie besonders auf.
Ich fokussierte sie auf die drei Männer.
Als die Sprache auf ihren Vater kam, verstärkte sich ihre Augapfelaktivität. Sie sagte, er sähe wütend aus, und dann beschrieb sie wieder seine Kleidung: »Lang und weiß, wie ein Kleid.«
Das könnte der Kaftan sein, der in dem Zeitungsbericht erwähnt worden war. Sie könnte davon gelesen haben.
Ich fragte, ob sie über jemand anderen reden wollte, und wartete, ob sie zu dem Mann mit der haarigen Lippe kommen würde, doch sie hob den linken Zeigefinger.
Ich wiederholte die Frage, Bart oder Schnurrbart, indem ich einfache Ausdrücke benutzte, die eine Vierjährige verstehen kann.
»Ist der Schnurrbart groß oder klein?«
»Groß«, antwortete sie nach kurzem Überlegen.
»Richtig groß?«
Ihr rechter Zeigefinger hob sich.
»Hängt er herunter, oder ist er gerade?«
»Runter.«
»Er hängt herunter?«
»Walroß…«
»Er hat einen Schnurrbart wie ein Walroß?« Sie lächelte und hob den rechten Finger.
»Welche Farbe?«
»Schwarz.«
»Ein schwarzer Walroßschnurrbart.«
Sie zog eine Grimasse.
»Sehr gut. Du machst es großartig. Kannst du mir nun etwas über den anderen Mann erzählen, der dir den Rücken zukehrt?«
»Er ist… er sagt… ›Roll sie schon rein, Buck, verdammt noch mal. Mach schon, roll sie rein!‹«
30
Als sie gegangen war, dachte ich über ihren Meinungswandel nach. Woher kam diese plötzliche Risikobereitschaft? Auch wenn ihr Instinkt ihr vielleicht sagte, Angriff sei die beste Verteidigung, konnte ich nicht zulassen, daß sie sich ihm stellte. Es war noch zu früh dafür. Zuviel von ihren Erinnerungen war noch verschüttet.
Was hatte sie heute gesehen?
»Haarige Lippe« und Trafficant waren wahrscheinlich nicht identisch. Der dritte Mann hatte ihr die ganze Zeit den Rücken zugekehrt.
Roll sie schon rein, Buck, verdammt noch mal!
Konnte das Trafficant sein? Hätte er seinen Förderer so angeschrien? Soweit ich Lowell einschätzte, konnte ich mir kaum vorstellen, daß er das tolerieren würde. Doch vielleicht war die Beziehung zwischen den beiden komplexer als jene zwischen Mentor und Protegé.
Während ich noch darüber nachdachte, rief Ken Lowell an.
»Ich mache mir Sorgen wegen Lucy, Doktor. Sie hat mir von diesem Traum erzählt, den sie immer hat. Jetzt verstehe ich auch, warum sie nachts so oft aufsteht.«
»Tut sie das?«
»Sie scheint nichts davon zu merken, aber sie steht jede Nacht zwei oder dreimal auf und läuft herum. Gewöhnlich geht sie auf den Flur, starrt die Wand an und geht wieder in ihr Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher