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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Rätsel zu lösen, das Rätsel nämlich, was während der letzten Tage eines seiner muslimischen Vorfahren geschehen war, eines hier verstorbenen chinesischen Admirals. Statt dies Problem zu lösen, habe er jedoch ein neues gefunden; er wurde süchtig und verlor in Bombay jeden Halt. Selbst in diesen verlorenen Jahren, Jahrzehnten, aber habe er gelesen. Was er las? Was immer ihm in die Finger fiel, da war er ganz unsystematisch. Ihm fehlte es an Disziplin, aber er brauchte auch keine, schließlich wollte er kein Gelehrter werden. Er las, weil ihm das Lesen unmittelbare Befriedigung verschaffte, und wie allen Süchtigen war ihm nichts wichtiger als das. Ihm gefielen Geschichtsbücher, Reiseliteratur, Werke über Anthropologie, Kochbücher (die er genauso las wie alles andere, allein zum Vergnügen): Ihm gefiel Lesestoff mit Spezialwissen. Im Augenblick las er über einen Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, der eine lyrische Form erfunden hatte, eine, die so schwierig war, so verzwickt, dass die Dichter folgender Generationen in ihrem Leben höchstens ein Gedicht in dieser Form zu schreiben gewagt hatten, und fast niemand hatte drei oder mehr zu schreiben versucht, was auch heute noch galt, siebenhundert Jahre später. Das Gedicht bestand aus fünf Strophen zu je zwölf Versen sowie einer letzten Strophe mit fünf Versen in einem strikten, unsagbar komplizierten Reimschema, bei dem der Reim nicht auf der Schlusssilbe des letzten Wortes lag, sondern auf dem Wort in Gänze. Es war genau festgelegt, wie oft die sich reimenden Wörter der einzelnen Strophen sich in einem Muster wiederholten, das im Laufe des Gedichtes variierte (wobei für die Variationen strikte Regeln galten). Und obwohl das Gedicht insgesamt aus fünfundsechzig Versen bestand, gab es, man stelle sich das vor, nur fünf Reimwörter, weshalb der Dichter im strikten Regelwerk der Form so innovativ wie nur irgend möglich sein musste. Folgendermaßen, sagte Soporo und schrieb mit einem Finger auf eine imaginäre Tafel, sieht zum Beispiel der Reim der ersten Strophe aus:
    a
    b
    a
    a
    c
    a
    a
    d
    d
    a
    e
    e.
    In der nächsten Strophe rückt der e-Reim an die erste Stelle:
    e
    a
    e
    e
    b
    e
    e
    c
    c
    e
    d
    d.
    In der dritten Strophe übernimmt dann der d-Reim die erste Stelle und so weiter bis zur letzten Strophe, in der die Reimwörter nur einmal und zum letzten Mal vorkommen. Ihre Anordnung und Neuanordnung erlaubt es jedem der Wörter, erstes unter Gleichen zu sein, auch wenn das nur für eine Strophe gilt. Diese Form ist so genial wie nur wenige und gewiss anspruchsvoller als die meisten. An dieser Stelle hielt Soporo kurz inne und hob beide Hände, als müsse er einen wütenden Mob beschwichtigen. Okay, okay, nur noch einen Augenblick Geduld. Ich will auf Folgendes hinaus: Warum hat sich der Dichter eine derart komplizierte Form ausgedacht? Hatte er nichts Besseres zu tun? War er ein alter Griesgram, der eine bereits schwierige Kunst noch schwieriger machen wollte? Oder war er einfach bloß verrückt, was er in einem gewissen Maße durchaus gewesen sein dürfte, schließlich war er ein Dichter und dazu noch ein guter. Als man diese Frage an den Dichter gerichtet hatte, antwortete der zuerst, er gehöre nicht zu jenen, die über ihre Gründe Rechenschaft ablegten. Dann aber fuhr er fort, er habe eine Form schaffen wollen, mit der er sich gleichsam selbst in Ketten legte, denn innerhalb der Gefängnismauern der Form ein Gedicht zu schreiben sei ein wahrhafter Rausch und echte Freiheit. Es gibt also solche und solche Freiheit. Jetzt aber, sagte Soporo, mein Geständnis. Ich nehme möglicherweise wieder Heroin. Vielleicht heute Abend, wenn ihr alle heimgegangen seid und ich allein auf meinem Zimmer sitze, ein Buch lese, Tee trinke, oder nicht einmal lese, sondern nur aus dem Fenster auf die Straße schaue, auf die vorbeifahrenden Autos. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme keine Drogen und lebe allein. Ich blicke den Autos voller Menschen nach, blicke auf meine Hände und frage mich, was ich tun soll, und es besteht die Möglichkeit, diese Möglichkeit besteht immer, dass ich aus dem Haus gehe, ein Taxi rufe und an einen gewissen Ort fahre. Vielleicht tue ich das, vielleicht auch nicht. Es steht mir frei, mich so oder so zu entscheiden, denn die Konsequenzen trage ich allein, sonst niemand, und das, meine Freunde, ist die frohe, ungeschminkte Wahrheit.
    •••
    Soporo sagte, er sei müde. Er hätte gern noch länger geredet, aber in letzter Zeit

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